Auch vor 100 Jahren fand kein Kirschfest statt
19. Juni 2021
So sehr die Naumburger jedes Jahr aufs Neue ihr Kirschfest herbeisehnen, mussten sie dennoch immer mal wieder darauf verzichten. Wenn nachfolgende Aufzählung stimmt, dann ist es derzeit zum fünften Mal der Fall: 1866, 1870, 1915-1923, 1940-1953 und 2020-?
Blicken wir 100 Jahre zurück in ein Jahr, in dem zum wiederholten Male das Kirschfest ausfiel. 1921 war die wirtschaftliche Lage infolge des verlorenen Krieges schwierig. Reparationszahlungen und gleichzeitiger Boykott des deutschen Marktes trugen dazu bei, dass sich die deutsche Wirtschaft nicht erholen konnte. Eine Inflation war die Folge. Die Notlage machte sich im Leben jedes einzelnen Bürgers deutlich bemerkbar. Verschiedene Nahrungsmittel waren immer noch knapp und wurden durch die Geldentwertung zusehends teurer. Den wenigsten Menschen war nach Feiern zumute.
Es schien fast so, als sollte das Kirschfest, das 1914 zum letzten Male stattgefunden hatte, für immer verschwinden. Friedrich Hoppe (1879–1959) dazu: „Manche Kreise wünschten es auch gar nicht wieder herbei, da es angeblich ein Fest der gesättigten Bürgerschaft war, die auf der Vogelwiese ihren Wohlstand öffentlich zur Schau stellte und bei Wein und üppigen Mahle schwelgte, während die Armut vor den geöffneten Zelten vorüberspazierte. … Die Geschäftswelt vermisste allerdings das Fest schon lange. Es fehlte der Antrieb zur Belebung der Kauflust. Mancher Vater und manche Mutter, die sonst ihr Kind zum Kirschfest neu eingekleidet oder wenigstens mit Kleidungsstücken ergänzt hätte, unterließ es und hob das Geld für den Winterbedarf auf. … Die Heimatsfreunde, die ohne Rücksicht auf geschäftliche Vorteile arbeiteten und denen an der Erhaltung des alten Volksfestes besonders gelegen war, versuchten indessen ununterbrochen die Bürgerschaft aufzurütteln, das Fest wieder einzuführen. Sie fanden allerdings beim Stadtoberhaupt wenig entgegenkommen.“ Schon 1920 veranstalteten zahlreiche Vereine als Ersatz für das große Naumburger Heimatsfest „Kirschfeste“ für die Kinder. „Man konnte beobachten, dass Züge von Kindern mit Papierlaternen des Abends die Straßen durchzogen und das Lied von den Hussiten sangen.“ Neben den finanziellen Problemen gab es aber auch personelle und materielle. Das Trommler- und Pfeiferkorps, dass früher morgens durch die Stadt zog und den Weckruf erschallen ließ, existierte nicht mehr. Die Ausgestaltung der Festwiese war nicht mehr wie gewohnt möglich. „Der Krieg forderte die Leinenplanen der Zelte und eine Neuanschaffung ist unmöglich. Das große Konditorzelt, das dem Fest seit Jahrzehnten ein bestimmtes Gepräge gegeben hatte, wurde zerschlagen und verkauft. Das große Lehrerzelt von 1852 war morsch geworden und hatte ausgedient.“
Es gab auch zahlreiche Diskussionen, wie das Kirschfest zukünftig gestaltet werden sollte. Es wären „Mittel und Wege zu suchen, die ungeheuren Menschenmassen, die an solchen Tagen auf den Beinen sind, so geschickt zu verteilen, dass nicht ein dauerndes Gedränge und Gedrückte die Festfreude stört und die Festbräuche verroht“. Wichtig sei ebenso, dass „von der Vogelwiese alle lärmmachenden Veranstaltungen, wie Karussells und Luftschaukeln mit ihren furchtbaren Leierkästen, ferngehalten würden, und das auch verboten würde, auf dem Platze und in der Nähe desselben allerlei Firlefanz, Papptrompeten, Blechpfeifen, Federwedel, Konfetti usw. zu verkaufen“. Eine weitere Forderung war, dass die Kinder wieder zu größerem Recht kommen müssen, das Kirschfest mehr ein Kinderfest sein solle.
Blicken wir kurz noch weiter zurück. Schon seit Jahrhunderten wurde das Kirschfest bekanntlich in der einen oder anderen Form gefeiert. Zwar gibt es über seinen Ursprung verschiedene Meinungen, mittlerweile ist es aber unbestritten, dass sich das Kirschfest aus einem Schulfest entwickelte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ließ das Interesse daran aber stark nach. Vielleicht wäre es ganz eingegangen, hätte nicht Georg Rauhe (1739 bis 1791) im Jahre 1782 seine Geschichte von Naumburgs Belagerung durch die Hussiten und die durch die Fürbitte der Kinder unserer Stadt abgeblasene Erstürmung veröffentlicht. Obwohl das eine reine Erfindung war, so hat diese Geschichte doch bewirkt, dass das Kirschfest wieder mehr Anklang fand und eine Wandlung zum Volksfest erfuhr. Dazu trug auch bei, dass verschiedene Schriftsteller und Zeitungen Rauhes Geschichte weiter ausgeschmückten. Einen weiteren Beitrag dazu leistete später Karl Friedrich Seyferth (1809 bis 1865) mit seinem 1832 verfassten Lied „Die Hussiten zogen vor Naumburg“, welches die Naumburger Bürgerschaft damals als eine „Verhöhnung alten Väterbrauches“ empfand, was es wohl auch sein sollte.
„Überlieferungen“ von der Belagerung durch die Hussiten wurden damit zur Wahrheit, denn was geschrieben steht, kann doch nicht falsch sein, oder?
Doch zurück ins Jahr 1921. Im Naumburger Tageblatt wurde über Elternversammlungen berichtet, auf denen viele Eltern den Wunsch aussprachen, das Kirschfest wieder mehr zu einem Schul- und Familienfest zu machen. Der Kirschfestausschuss lud deshalb am 30. März in das Schützenhaus zu einer Bürgerversammlung ein, die aber entgegen allen Erwartungen schlecht besucht war. Es wurde mitgeteilt, dass der Wunsch der Elternversammlungen nach dem Kirschfest den Kirschfestausschuss veranlasst hat, beim Magistrat vorzusprechen. Man erfuhr, dass es einen Magistratsbeschluss gäbe, das Kirschfest in diesem Jahre nicht zu feiern; „wenn aber Stimmung dafür in der Bürgerschaft sei, so würde man sich auch umstimmen lassen.“ Man beschloss unter der Einwohnerschaft Listen in Umlauf zu bringen, in denen sich die Freunde des Kirschfestes eintragen können.
Auf einer außerordentlichen Stadtverordnetensitzung am 3. Mai 1921 wurde die Frage abschließend diskutiert. In einem Schreiben teilte der Kirschfestausschuss mit, dass innerhalb weniger Tage für die Durchführung des Festes 2 800 Unterschriften gesammelt wurden. Weiterhin erläuterte man, wie die Festwiese ausgestaltet werden sollte und schloss mit einer Bitte um Mithilfe der Stadt. In der Diskussion rieten sowohl der Bau- als auch der Finanzausschuss von der Ausführung des Festplanes ab, da die Feier des Kirschfestes erhebliche Kosten verursachen würde, veranschlagt waren 31.000 Mark. In der anschließenden Abstimmung war man sich dann einig, die Veranstaltung des Kirschfestes im Jahre 1921 abzulehnen.
Dennoch mussten die Naumburger 1921 nicht ganz auf eine Kirschfestfeier verzichten. Der Turnverein „Friesen“ erklärte gemeinsam mit Gönnern und Freunden des Vereins, für die Jugend eine ähnliche Veranstaltung durchzuführen. Auch die Ortsgruppe der Deutschen Reichsfechtschule (1880 gegründeter Wohltätigkeitsverein für vaterländische Waisenpflege) organisierte ein großes Sommerfest in Form eines Hussitenfestes.
Am 12. Juni war die Beteiligung am Kirschfest der „Friesen“ viel größer, als von den Organisatoren erwartet. Kurz nach 2 Uhr ging es in geschlossenem Zuge vom Salztor aus mit Musik zum Friesenheim. Sehr zahlreich beteiligten sich festlich geschmückte Kinder und Erwachsene an diesem Auszug. Der große Spielplatz war für Spiele und allerhand Kurzweil eingerichtet. Wer sich nicht am Sternschießen, Bolzenschießen oder Wurstkegeln beteiligen wollte, der konnte einen Preis im Ballwerfen oder Flaschenschlagen erringen, sowie sich bei vielen Turnspielen nach Herzenslust austoben. Verkaufsstände aller Art waren vorhanden, aber schon nach einigen Stunden von der Jugend und ihren Eltern leer gekauft. Als es dunkelte beleuchteten beim Rückmarsch in die Stadt wohl an die 1 000 Lampions den Weg. Dort angekommen, erklang zum Abschied das Kirschfestlied.
Die Beliebtheit des Kirschfestes unter der Bevölkerung bewies auch das sehr gut besuchte Hussitenfest der deutschen Reichsfechtschule im „Terrassen-Restaurant“ am Spechsart. Im Festzuge erschien hoch zu Ross Prokop, schwer gewappnet im Gefolge einer stattlichen Kriegerschar. Dem äußerst hageren „Lehrer von der Schul“ folgten die weißgekleideten kleinen Mädchen mit Kränzlein im Haar. Auf dem Platze unterhalb der Terrassen wurde die Belagerung der Stadt angedeutet. Es gab verschiedene Kinderbelustigungen mit Sternschießen, einem Karussell und einer Rutschbahn sowie eine große Verlosung, die dank reicher Spenden manch freudige Überraschung brachte. Der Ertrag des Festes kam armen Waisen zugute.
Nun 100 Jahre später konnte wegen der Coronapandemie schon zum zweiten Male in Folge kein Kirschfest gefeiert werden. Wer vermissen alle sehr, dass es keinen Festumzug, kein Hussitenlager, keine Peter-Pauls-Messe und keine Treffen mit Freunden und Bekannten auf der Vogelwiese gegeben hat. Blicken wir optimistisch ins nächste Jahr, wenn all das hoffentlich wieder möglich sein wird. Ich bin sicher, dann werden „zu Ehren des Mirakel“ wieder hunderte Kinder auf dem Markt und wir alle gemeinsam, trotz besseren Wissens, voller Inbrunst „Die Hussiten zogen vor Naumburg“, unser „Kirschfestlied“ singen.