Was man vor 100 Jahren im Tageblatt lesen konnte, ein Jahresrückblick
17. Dezember 2021
Zum Jahresende ist es üblich, eine Bilanz des vergangenen Jahres zu ziehen, sich der schönen und weniger schönen Ereignisse zu erinnern. Das Jahr 2021 hat uns bekanntermaßen einiges abverlangt, doch vor 100 Jahren war das nicht anders.
1921 kam es infolge des Krieges zu einer ungeheuren Entwertung der Mark, die eine alles bisherige übertreffende Teuerung in allen Bereichen des Lebens nach sich zog. Darüber könnte hier ausführlich berichtet werden. Ein weiteres wichtiges Thema wären sicherlich die Märzkämpfe in Mitteldeutschland und die unzähligen Sitzungen des hier damals tagenden Sondergerichtes, das Teilnehmer an den Märzkämpfen aburteilte. Doch soll der Schwerpunkt mehr auf dem liegen, worauf das Tageblatt in seinem Lokalteil Wert legte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne weitere Erwähnung solcher Ereignisse, über die im ablaufenden Jahr schon berichtet wurde, wie das Luthergedenken, die Krankenhauseröffnung und die Rathausrenovierung.
Nahezu täglich wiederkehrende Themen waren u. a. das Vereinsleben, das Programm der Schaubühne, Ereignisse in den Schulen, sowie die öffentlichen Stadtverordnetensitzungen und das Wetter.
Auch die Polizeiberichte sind äußerst interessant. Pro Quartal wurden rund 100 Personen festgenommen. Gründe waren hauptsächlich Diebstahl und Hehlerei, Betrug, Unterschlagung und Urkundenfälschung, Sachbeschädigung, außerdem einige Fälle von Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch, Betteln und Landsteicherei. Als weitere Vergehen werden genannt: Preistreiberei und Wucher, Körperverletzung, Misshandlung, Bedrohung und Beleidigung, Abtreibung, Sittlichkeitsverbrechen, Blutschande, Gewerbsunzucht und Ansteckung, Kuppelei, wilde Ehe und Nichtsorgen für die Familie. Ebenfalls kamen Verstöße gegen Meldevorschriften, Übertretung der Polizeistunde, grober Unfug und Lärmen, Ausgabe von Falschgeld, Nahrungsmittelfälschung und Schleichhandel mit rationierten Lebensmitteln zur Anzeige. Der Wert des von der Kriminalpolizei ermittelten und den Eigentümern wieder zugestellten Diebesgutes betrug pro Quartal über 100.000 Mark.
Dazu einige wenige Beispiele. Die Nahrungsmittelknappheit und die hohen Preise trieb manche Einwohner dazu, sich „anderweitig“ zu versorgen. „Die Klagen über Diebstähle von Feldfrüchten wie Möhren, Zwiebeln, Kartoffeln häufen sich von Tag zu Tag. So wurden gestern von einem kleinen Stück Frühkartoffeln über 80 der besten Kartoffelstöcke, sowie von den nebenan stehenden Zwiebeln auch die besten herausgezogen.“ „Der hiesigen Schupo glückte es Freitagmorgen 4 Uhr eine Diebin, eine Witwe aus der Brunnengasse, beim Felddiebstahl zu erwischen. Ein Beamter sah auf seinem Rundgang auf einem Feld am Markgrafenweg eine Person kriechen und er konnte feststellen, dass diese in einem großen Sack gestohlene Wirsing-Kohlköpfe und Kohlrabi untergebracht hatte.“
Manche Leute, die Lebensmittel verkaufen konnten, versuchten daraus einen großen Gewinn zu ziehen. Als am 1. Juni die Rationierung von Milch und Butter aufgehoben wurde, „geschah es zum ersten Male wieder, dass Butter auf dem hiesigen Wochenmarkt feilgeboten ward. Eine Bauersfrau aus Hirschroda verlangte 13 Mark für das Stück.“ Auf dem halleschen Wochenmarkt wurden sogar 29 Mark für das Pfund gefordert, was einigen Butterhändlerinnen und Molkereien Strafverfahren wegen Preistreiberei einbrachte.
In Naumburg wurde von den Behörden eine Prüfung der Preise in 30 Lebensmittelgeschäften durchgeführt. „In der großen Mehrzahl der Fälle konnten keine Verstöße festgestellt werden, vielmehr konnten die Geschäftsleute den Nachweis erbringen, dass sie zu den verhältnismäßig sehr hohen Einkaufspreisen nur angemessene Zuschläge erhoben. In 6-8 Fällen sind allerdings Preise gefordert worden die als wucherisch angesprochen werden mussten. Diese Fälle sind der Staatsanwaltschaft zur Weiterverfolgung übergeben worden.“ Auch ein Fall von Nahrungsmittelfälschung soll hier genannt werden. „Zu den kürzlich berichteten Ergebnis der polizeilicherseits veranstalteten Milchuntersuchungen, die einen starken Wasserzusatz ergaben, – in einem Fall sogar bis über die Hälfte – ist noch zu erwähnen, dass die Milchpanscher, vier Landwirte aus Schönburg, zur Untersuchung gezogen sind.“
Nicht nur Lebensmittel waren das Ziel der Bemühungen von Dieben, wie einige der nachfolgend zitierten Berichte zeigen. „Gestern wurden in der Eckardtstraße am hellen Tage, während die Hausfrau in der Küche beschäftigt war, aus der Stube Schmucksachen, Uhren, Broschen usw. gestohlen.“ „Ein Geschäftsinhaber und seine Frau waren auf wenige Stunden von Zuhause abwesend. Bei ihrer Rückkehr mussten sie die Entdeckung machen, dass ihnen inzwischen Diebe einen Besuch abgestattet hatten. Es fehlen einige 1.000 Mark, Pelzboa und Muff, eine goldene Damen- und Herrenuhr, sowie Wäschestücke. Die Diebe hatten sich mittels Nachschlüssel Eingang verschafft." „Auf der Straße Henne-Eulau sind in der Nacht etwa 600 m Kupferdraht gestohlen worden. Da gleiches an dieser Stelle erst vor sechs Wochen geschah, dürfte es sich wieder um die gleichen Täter handeln, auf deren Ermittlung eine große Belohnung gesetzt ist." Selbst „stille Örtchen“ waren vor Dieben nicht sicher. „In der Nacht von Sonntag auf Montag sind bei den Neubauten am neuen Friedhof, in der Weißenfelser Straße, komplette Bretter-Aporte gestohlen und auf Handwagen abgefahren worden. Wer die Diebe namhaft macht, erhält 100 Mark Belohnung." „Ein hiesiges Dienstmädchen hatte einige Tage vor dem Schützenfest der Schwester ihrer Dienstherrin 3.000 Mark gestohlen und während des Schützensfestes ungefähr 1.000 Mark verjubelt. Die übrigen 2.000 Mark hatte das Mädchen dann ihrem Vater übergeben und ihm vorgeschwindelt, dass sie das Geld gefunden habe. Nun hat sie den Diebstahl aber eingestanden.“
Doch es gab auch reuige Sünder. Ein Landwirt erhielt folgenden Brief: „Sehr geehrter Rittergutsbesitzer! Als ich vor zwei Jahren in Ihrer Nähe etliche Wochen zu Besuch war, habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen und möchte es Ihnen hiermit beichten und Sie um Vergebung bitten. Ich war eines Abends auf ihrem Schotenfeld und habe mir eine Tasche voll geholt. Ich lege Ihnen 10 Mark in dem Brief bei für den Schaden, den ich Ihnen zugefügt habe. Mir macht es oftmals Unruhe. Es ist doch ein wahres Sprichwort: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“
Damit hier nicht der Eindruck entsteht, dass die knapp 30 000 damals lebenden Naumburger durch und durch kriminell waren, soll diese kleine Auswahl reichen. Natürlich gab es noch anderes zu berichten. Dazu gehören eine Reihe von Unfällen auf den Straßen und im häuslichen Bereich. Vor der Straßenbahn scheuende und aus div. Gründen durchgehende Pferde aber auch unvorsichtige sowie rücksichtslose Radfahrer waren dabei die Hauptakteure. Handwerker verunglückten bei der Arbeit und Kinder trieben Unfug. „Eine Unsitte von Kindern und Jugendlichen ist das Anhängen an fahrende Wagen und das heimliche Mitfahren. Als am Mittwoch ein Junge bei einer solchen Gelegenheit von einem Schutzpolizeibeamten am Arm gepackt und vom Wagen fortgezogen wurde, soll er davon allerdings blaue Flecke davongetragen haben. Wäre der Polizist nicht eingeschritten und es hätte ein Unglück gegeben, wären dem Polizisten wohl auch Vorwürfe nicht erspart geblieben.“
Wie man sieht, hatte es die Polizei damals ähnlich schwer wie heute.
Und noch eine Rubrik von Beiträgen soll nicht unerwähnt bleiben, die über Vermisste, Ertrunkene und Selbstmörder. Immer wieder kam es vor, dass Nichtschwimmer die Gefahren beim Baden in der Saale unterschätzten. Sie trieben ab und wurden später nur noch tot geborgen. Eine ganze Reihe von Menschen aller Altersschichten bewog die Verzweiflung über ihre Lebensumstände sich das Leben zu nehmen. Vorrangig suchten sie den Freitod in der Saale oder warfen sich vor Züge.
Schließlich wurde der Lokalteil des Naumburger Tageblatts auch dazu genutzt, einige Vorschriften und Verhaltensregeln zu publizieren. „Das Abraupen der Obstbäume ist zur Obstbaumpflege und im Interesse einer ergiebigen Obsternte dringend nötig. Wer es unterlässt, hat damit zu rechnen, dass er aufgrund der Polizeiverordnung vom 23. Juli 1918, die das Abraupen zur Pflicht macht, bestraft wird.“ „Die Hamstervertilgung wird den Feldbesitzern und Pächtern bei Beginn der Bestellzeit von amtlicher Seite im eigensten Interesse nahegelegt, um einer Vermehrung dieser ungemein schädlichen Vielverbraucher in der Sommerzeit zu begegnen.“
Darüber hinaus findet der interessierte Leser auch Ratschläge, die heute noch erteilt werden könnten. „Der Verkehr auf den Straßen lässt immer noch viel zu wünschen übrig. Auf Fußwegen und Fahrstraßen ist oft, besonders in den Abendstunden, kaum durchzukommen, weil die einfachste Regel auf den Bürgersteigen rechts gehen und auf den Straßen rechts fahren außer acht gelassen wird." „Unsere Straßenpolizeiordnung gewährt die Vergünstigung, dass Kinderwagen auf den Bürgersteigen fahren dürfen. Leider wird dies oftmals missbraucht, indem dieselben oft zu zweien oder gar dreien nebeneinander herfahren oder die schiebenden Personen sich unterhaltend stehen bleiben, unbekümmert, um die oft vielen Fußgänger in engen Straßen." „In Naumburg ist die Zahl der Hundebesitzer verhältnismäßig groß. Manche unter ihnen lassen es an der wünschenswerten Rücksichtnahme gegen ihre Mitmenschen fehlen, unbekümmert um polizeiliche Vorschriften. Namentlich ältere und kranke Leute empfinden das Gebell von unbeaufsichtigten Hunden recht störend. Häufig wird beobachtet, dass Personen von Hunden angesprungen werden und sich kaum erwehren können ohne dass die Besitzer die Tiere zurückgerufen hätten". „Ein sauber gepflegtes, von Papier- und sonstigen Abfällen freies Straßenbild dient einer Stadt bekanntlich stets zur Empfehlung, ganz abgesehen von seiner gesundheitlichen Bedeutung für die Einwohnerschaft." „Es ist wünschenswert, dass in Schule und Haus auf die Jugend eingewirkt wird, die städtischen Anlagen zu schonen."
Zum Abschluss ein Zitat aus dem Naumburger Tageblatt vom 31. Dezember 1921, dessen Inhalt auch heute aktuell ist: „Ein Jahr ist vergangen. Was hatten wir uns alles vorgenommen, was wollten wir nicht alles schaffen!? Und nun sind von dem Jahr nur noch ein paar magere Stunden übrig, um sich zu besinnen, wie es eigentlich gewesen ist. Es gehört immer eine ganze Menge Mut dazu, die Erinnerung an jüngst vergangene Tage herbeizurufen. Leben wir doch in einer Zeit, die an Sorgen und Überraschungen durch das Schicksal überreich ist. Wir finden im vergangenen Jahr nicht viel an Erfreulichem, aber viel, sehr viel Enttäuschungen. Wie gern möchten wir den dunklen Vorhang der Zukunft ein wenig beiseite schieben, um nur einen kurzen Blick vom kommenden zu erhaschen; aber es ist doch wohl besser, uns bleibt das Wissen um die Zukunft versagt."
In diesem Sinne ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2022!