Die höchstgelegene Wohnung Naumburgs gibt es nunmehr seit 510 Jahren

18. Dezember 2023

Der lapidare Satz von Naumburgs anerkannten Stadtschreiber und Bürgermeister Sixtus Braun „Auf der Kirchen ist des Hausmanns Gebäude und Stüblein im Turme verfertigt.“, aufgeführt unter der Jahreszahl 1513, gibt uns Anlass, in diesem Jahre des 510. Jahrestages der Errichtung der Türmerwohnung auf dem Wenzelsturm zu gedenken.

Seit wann der Wenzelsturm existiert ist allerdings unbekannt. Doch kann man immer wieder lesen: „Der Turm der Naumburger Bürgerkirche St. Wenzel gehört seit alters her zum städtischen Besitz, denn der Kirchturm war gleichzeitig der wichtigste Wachturm der Stadt.“ In seiner heutigen Gestalt wurde der Turm ab dem Jahr 1426 erbaut. Er ist 72,5 m hoch, die Türmerwohnung liegt in 45 m Höhe und 8 m darüber befindet sich die Aussichtsplattform.

Seit Anfang des 15. Jahrhunderts liegen Informationen über "Hausmänner" vor, wie die Türmer der Naumburger Wenzelskirche genannt werden. In der Turmchronik wird vom Jahr 1408 berichtet: „Der Hausmann erhält für die Tagwache 8 Groschen wöchentlich.“ Seine Aufgabe war es u. a., herannahende Feinde und Feuer zu melden.

Nicht immer erfüllten die Hausmänner diese Aufgaben wie erwartet. So heißt es schon 1411: „Auf der Kirche ist um Galli der Turm abgebrannt und darum der Hausmann zu gefänglicher Haft eingenommen wurden.“ Im Jahr 1517, vier Jahre nach Einrichtung einer Türmerwohnung, wurde auch der Hausmann für die großen Ausmaße des Stadtbrandes im Oktober des Jahres verantwortlich gemacht.

Da die Wache auf dem Turm rund um die Uhr zu geschehen hatte, was einem Einzelnen unmöglich war, wurden seit 1527 Beiwächter eingesetzt, die den Türmer während der Nacht vertraten. Doch nicht immer kamen diese Personen miteinander aus. So ist aus dem Jahr 1540 bekannt, dass „der Rat den Hausmann und den Wächter gefänglich eingesetzt - darum, dass sie sich auf dem Turme bei Nacht gerauft, geschlagen und einer den andern am Ofen geworfen und denselben zerbrochen - sie auch derhalben gestraft und enturlaubt [entlassen] hat.“ Als der bischöfliche Richter sich anschließend anmaßte, den entlassenen Hausmann aus gleichem Anlass nochmals festzusetzen, bekräftigte der Rat, dass er den Wenzelsturm erbaut hat und baulich erhalten muss und „sein Gesinde als Hausleut und Wächter droben hält, sie besoldet und aufnimmt.“ Der Bischof und seine Rechtsorgane wurden also für nicht zuständig erklärt und der Gefangene musste „ohne Entgelt wieder ausgelassen werden.“

Aus dem Jahr 1584 sind die Aufgaben der Türmer wie folgt überliefert: „Wache von 12 Uhr nachts bis 12 Uhr mittags und von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr nachts, im Wechsel mit dem Beiwächter; ankommende Reiter anblasen; das Clarett [Clarintrompete] blasen, dem Kantor beistehen. Entlohnung: 1 Thaler, 2 Groschen, ½ Malder Korn, freie Wohnung und freies Holz und 16 Groschen für 2 Seiger“ [könnte als Wartung der Turmuhr verstanden werden].

Eine Erweiterung der Türmerwohnung, die anfangs wohl nur aus einem Raum bestand, erfolgte lt. Turmchronik im Jahre 1599. In dem Zusammenhang wurde bekräftigt, dass der Stadtturm der Stadt gehört und sie die Baulast zu tragen hat. Damals ließ man die Hausmänner auch einen Eid ablegen, wie unter der Jahreszahl 1605 vermerkt ist: „Ich schwöre, dem Rat und gemeiner Stadt treu, gehorsam und gewärtig sein und die Wache auf dem Stadtturm mit allem Fleiß verrichten und Aufsicht gebrauchen, wenn etwa – da Gott vor sei – Feuer aufkomme, dass solches alsbald gemeldet werde, des Turmes abwarten und nicht bei Tage und Nacht in der Stadt zu Saufen liegen, in den Gasthöfen das Trankgeld betteln, das Anblasen mit Maßen machen,..“. Letzteres bezieht sich womöglich darauf, dass die Hausmänner wegen ihrer schlechten Bezahlung häufig noch einer Nebenbeschäftigung, meist als Musikanten, nachgingen.

Steigt man heute auf den Turm, kann man oberhalb der Türmerwohnung einen Lastenaufzug aus der Mitte des 18. Jahrhunderts sehen. Doch wurden auch schon früher auf dem Turm benötigte Dinge außen hinauf gezogen. Das verlief nicht immer unfallfrei, wie wir aus dem Jahre 1690 erfahren: „8 Groschen dem Todtengräber von der Fraun Grabe, welche der Wenzel-Thurm-Eymer hat geschlagen, 8 Groschen den vier Männern, welche diese Frau zu Grabe getragen.

Seit Anfang des 17. Jahrhunderts wurden Türmerordnungen erlassen, die die Aufgaben der Hausmänner genau regelten. Dazu gehörte neben den bereits genannten u. a. auch, täglich früh um 3 Uhr, mittags 11 Uhr und abends bei Torschluss in Richtung Markt und Wenzelsstraße drei Choräle zu blasen. Nebentätigkeiten wurden verboten.

Aus der Turmchronik ist zu entnehmen, dass trotz der strengen Türmerordnungen manche Hausmänner nach wie vor nicht ihren Pflichten wie gefordert nachkamen. So auch Johann Christian Madlung, der in seiner Dienstzeit von 1824 bis 1864 viele Brände meist nicht meldete. Extra für ihn wurde am 14. April 1825 eine neue Dienst-Instruktion erlassen, die im Naumburger Kreisblatt vom 23. d. M. nachzulesen ist. Auf reichlich 5 Seiten waren seine Pflichten detailliert aufgelistet, da kann man nur hoffen, dass er auch lesen konnte. Allein 2 Seiten lang war das „Glocken-Geläute zu kirchlichen Zwecken“ und weitere 2 Seiten betrafen das „Glockengeläute zu außerkirchlichen Zwecken“. In Madlungs Dienstzeit fiel auch die alte Sitte des Choralblasens fort, weil ihm die Zähne fehlten.

Der letzte Hausmann mit den beschriebenen Aufgaben war ein Herr Abicht. Am 19. September 1891 war im Kreisblatt zu lesen: „‚Der höchste Beamte der Stadt’, wie man ihn im Scherz zu nennen pflegt, der Stadttürmer Herr Abicht, wird demnächst sein Amt aufgeben und ist bereits beurlaubt worden; es steht noch dahin, ob die Stelle wieder besetzt werden wird, oder ob nicht vielmehr das Feuerwacht- und Meldewesen in anderer Weise geordnet werden wird.“ Eine wichtiger Grund für die Aufgabe seines Amtes war wohl ein Blitzeinschlag im Turm, der ihn und seine Frau besinnungslos zu Boden stürzen ließ. Doch erst über ein Jahr später, am 30. Dezember 1892, ist zu erfahren, dass anstelle von Abicht der Schuhmacher Limmer die Türmerwohnung beziehen wird und zwar als Mieter ohne die Aufgaben eines früheren Hausmannes.

Herrmann Limmer lebte mit seiner Frau von 1893 bis 1908 auf dem Turm. Ihm wurden von der Stadt die Aufgaben übertragen, die Turmuhr zu warten und die Schulglocke zu läuten. Im Auftrag der Kirche läutete er auch die Kirchenglocken. Außerdem übte er noch sein Handwerk als Schumacher aus.

Der Familie Limmer folgte die Familie Schunke, die seit dem 1. Juli 1908 auf dem Turm wohnte. Wilhelm Schunke kannte den Turm bestens, hatte er doch schon seit 1889 die Kirchenglocken auf dem Turm geläutet. Eine Zeit lang lebte er dort mit seiner Frau und 9 Kindern. Als am 31. Mai 1909 der erste Zeppelin nach Naumburg kam hat dieser auch die Wenzelskirche überquert. „Am gleichen Tage ist der Klapperstorch in die Turmstube eingekehrt und hat ihm ein Töchterchen in die Wiege gelegt“ sagte Schunke in einem 1937 veröffentlichten Interview des Tageblatts. Bei dem Töchterchen handelte es sich um Charlotte, die später seine Nachfolgerin wurde. 1920 feierte das Ehepaar Schunke auf dem Turm die Silberhochzeit. Alte Freunde von der Feuerwehr kamen auf den Turm und trugen viel zum Gelingen des Festes bei. Als Schunkes Frau 1935 auf dem Turm starb, trug er sie mit Hilfe der Söhne und Schwiegersöhne die 202 stufige Wendeltreppe hinunter.

Die Lebensbedingungen auf dem Turm waren zum Zeitpunkt des Interviews nicht ganz einfach. Elektrische Beleuchtung gab es nicht, aber 1916 hatte man eine Gasleitung zu Beleuchtungszwecken auf den Turm gelegt. Auch 1935 wird in der Turmchronik noch das Fehlen einer elektrischen Beleuchtung erwähnt. Es gab einen Ofen, dessen Brennmaterial mit der Winde an der Außenwand des Turmes heraufgezogen wurde, wozu drei Mann erforderlich waren. Auf dem gleichen Wege gelangte die Asche und Küchenabfälle nach unten. Richtig warm wurde es auf dem Turm nie. Es gab auch eine Wasserleitung. Der Druck im städtischen Leitungsnetz reichte gerade noch bis hinauf aus. Im Winter musste die Leitung aber abgestellt werden, weil sie nicht isoliert war. Dann wurde die tägliche Wassermenge auch mit der Winde hinaufgezogen.

Am 8. März 1960 starb Wilhelm Schunke. „Nichts ist ihm sehnlicherer Wunsch, als auf dem Turm sein Leben beschließen zu können“, war 1957 in der LDZ zu lesen. Doch eine Krankheit zwang ihn, nunmehr über 94 Jahre alt, kurz vor seinem Tode den Turm zu verlassen. Schon 4 Jahre vorher war seine Tochter Charlotte mit ihrem Mann Kurt Treibler in die Türmerwohnung gezogen. Anfangs mussten auch sie noch alles zum Leben notwendige, wie Kohle und Lebensmittel manuell an einem Strick außerhalb des Turmes emporziehen. Da der Wasserdruck im Naumburger Leitungsnetz nicht mehr ausreichte, gelangte auch das Wasser auf diesem Weg nach oben. Mit dem Einbau eines elektrischen Lastenaufzugs 1958 wurde das einfacher.

Tag für Tag begrüßten Treiblers Besucher auf dem Turm und gaben ihnen geduldig Antworten auf deren Fragen. Doch von Jahr zu Jahr fiel es ihnen schwerer, mit den Nachteilen ihrer Turmwohnung fertig zu werden. In der LDZ von 1973 stand dazu: „Besonders das Treppensteigen wird für beide, da sie gehbehindert sind und mit 73 bzw. 64 Jahren nicht mehr zu den Jüngsten zählen, immer schwieriger.“ Ende September 1975 wurde dann ihr sehnlicher Wunsch nach der Bequemlichkeit einer Stadtwohnung erfüllt. Diese bekamen sie in der Jakobstraße, wo sie ihre 1942(!) gekauften Schlaf- und Küchenmöbel erstmals aufstellen konnten.

Die nächste Türmerin wurde 1976 die 22-jährige Gebrauchswerberin bei der HO Gabriele Angermann. Sie war die einzige Bewerberin, die sich bereit erklärte, nicht nur das Türmeramt auszuüben, sondern auch auf dem Turm zu wohnen. Nachdem verschiedene Gewerke zuvor die Wohnung hergerichtet hatten, bezog sie Mitte März 1976 ihr neues Heim. Allerdings hatte die Stadt an ihr nur eine kurze Freude, wie im Naumburger Tageblatt am 19. März 1997 zu lesen war. „Wie es heißt, soll sie dort oben allzu fröhlich gelebt haben. Einige wollten auf dem Turm morgens auch eine Wäscheleine mit Höschen und BH's auf einer Trockenleine gesehen haben. Aber vielleicht ist auch das nur eine Legende.“ Noch im gleichen Jahr verließ sie den Turm wieder.

Neue Türmerin wurde am 1. Oktober 1976 Angelika Thee, eine 31-jährige OP-Schwester. In einem Interview mit der LDZ im März 1977 nannte sie als Gründe für diese Entscheidung das Interesse an Naumburgs Geschichte und auch „einen guten Schuss Romantik“. Inzwischen hatte die Stadt „diverse Voraussetzungen für gutes Wohnen auf dem Turm, wie fließendes Wasser und zweckdienliche Elektrik, geschaffen.“ Später kam dazu noch „ein Wasserklosett und eine elektrische Heizung“. Am 25. April 1977 zog Angelika Thee dann in die Türmerwohnung ein. „Rote und weiße Nelken lagen als kleines Einzugspräsent auf dem ersten Korb, der mit der Winde emporgehievt wurde. Schränke, Kommoden, Sessel und Stühle folgten“, wurde in der LDZ berichtet. Sie richtete sich häuslich ein und genoss die Abgeschiedenheit, besinnliche Ruhe und den herrlichen Fernblick. Während der Öffnungszeiten begrüßte sie zahllose Gäste auf dem Turm. 1991 konnte man im Tageblatt lesen, dass „15 Jahre Turmdienst Angelika Thee weder weltfremd noch menschenscheu werden ließen. 1989 zählte sie zu den ersten Mitgliedern des Neuen Forums, die in Naumburg für die politische Wende eintraten.

Inzwischen hatte der Zahn der Zeit heftig am Wenzelsturm genagt. Nach gründlichen Prüfungen des Turmgemäuers und des zur Plattform führenden Treppenaufganges durch Sachverständige musste der Turmaufstieg Ende 1992 für Besucher gesperrt werden. Es begannen Sanierungsarbeiten und die Türmerin wurde im Stadtmuseum beschäftigt.

Dann kam der 24. Januar 1994. Angelika Thee wurde telefonisch zum Oberbürgermeister Curt Becker bestellt, der ihr vorwarf, Informeller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit gewesen zu sein. Die ihr präsentierte Unterschrift stand allerdings nicht auf einer Verpflichtungserklärung, sondern unter einer Schweigeverpflichtung. Trotzdem verlor sie ihre Arbeit. "Um mich war nur Nebel, als ich das Zimmer verließ. Knapp drei Jahre lang habe ich um mein Recht und um meine Wahrhaftigkeit gekämpft. Als Türmerin war ich geachtet - nicht zuletzt wegen meiner Wahrheitsliebe. Wenn ich den Kampf nicht aufgenommen hätte, hätte ich mich selbst in sämtlichen Bereichen infrage stellen müssen," sagte sie später. Am 21. November 1996 stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass ihr Rausschmiss durch nichts gerechtfertigt war und man schloss einen Vergleich, wonach sie 95.000 Mark von der Stadt Naumburg erhielt und bis zum 31. März 1997 die Türmerwohnung verlassen musste.

Am 18. März 1997 wurden ihre Möbel, wie es seit Jahrhunderten der Brauch war, wenn Türmer ein- oder ausziehen mit freundlicher Hilfe der Naumburger Freiwilligen Feuerwehr und des Bauhofs der Stadtverwaltung an der Außenfront des Turmes herabgelassen. Damit ging eine lange Tradition zu Ende.

Im Jahr 2001 wurde die Türmerwohnung letztmals umfassend saniert, denkmalgerecht zurückgebaut, dabei aber auch alle Versorgungsleitungen erneuert. Seit Mai 2001 kann man die 45 Quadratmeter Wohnfläche, aufgeteilt in fünf kleine Zimmer und eine Diele wieder besichtigen, wenn man sich der Mühe einer Turmbesteigung unterzieht.

Leider wird das touristische Potential, das die Türmerwohnung samt Nebengelass bietet bei weitem nicht ausgeschöpft. Am Eingang zum Turm wird zwar darauf hingewiesen, dass auf „dem Weg nach oben sowohl das historische Uhrwerk als auch der Glockenstuhl mit dem berühmten Dreiergeläut von Martin Hilliger (1518) betrachtet werden kann“, weitere Informationen dazu fehlen aber völlig. Auch wird der Turm nicht, wie oftmals gewünscht, zu Sonderführungen oder Veranstaltungen auf dem Mark außerhalb der üblichen Besuchszeiten geöffnet. Personalmangel allein sind wohl kaum die Gründe, zumal Angebote der Interessengemeinschaft der Turmfreunde, hierbei ehrenamtlich Unterstützung zu leisten, seit Jahren abgelehnt werden.

 

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