Zur Geschichte eines Bleiglasfensters

20. März 2024

Es war einmal ein Fenster, genauer gesagt ein Bleiglasfenster, auf dem Hänsel und Gretel vor einem Hexenhäuschen dargestellt sind, das vor vielen Jahren bei Umbauarbeiten eines Hauses auf einem Schutthaufen landete. Es wurde dort entdeckt, vom Finder mitgenommen, neu eingerahmt und hing seitdem in seiner Wohnung an der Wand. Im letzten Jahr nun schloss er seine Augen nach einem langen, arbeitsreichen Leben für immer. Von seinen Hinterbliebenen wurde der Autor gebeten, etwas über die Geschichte des Fensters zu schreiben. Das Ergebnis der dazu durchgeführten Recherche liegt nun vor.

Fenster

Das Fenster zeigt in der rechten unteren Ecke die Aufschrift „Glasmalerei W. Franke Naumburg a/Saale, Inh. Dusberger u. Hartung“, womit die Herkunft des Fensters schon einmal geklärt ist.

Was ist über diese Firma bekannt? Im Jahre 1859 gründete der am 23. Dezember 1831 in Naumburg geborenen Glasmalermeister Wilhelm Franke eine "Anstalt für Glasmalerei und Kunstverglasung". Auf Grund der hohen Qualität seiner Arbeiten kam er schnell zu Ehren und hohem Ansehen. So erhielt er schon 1865 den Preis der Kunst-Gewerbe- & Industrieausstellung in Merseburg, 1879 das Diplom der Kunst-Gewerbe-Ausstellung Leipzig.

Als Franke am 13. April 1888 starb, übernahm sein 1866 geborener Stiefsohn Albert Hartung die Firma. In verschiedenen Quellen wird angegeben, dass sich mit einem neuen Teilhaber namens Dusberger für „kurze Zeit“ die Firmierung in „Dusberger & Hartung“ änderte, „später“ Dusberger wieder aus der Firma ausstieg und das Unternehmen unter alter Firmierung weiterlief. Eine Überprüfung der Handelsregistereinträge durch die Stadtarchivarin Frau Jungnickel brachte ans Licht, dass die Fa. Dusberger & Hartung zwar am 14.11.1888 eingetragen, aber erst nach über 19 Jahren, am 17.01.1908 als aufgelöst registriert ist.

Die Zahl der Mitarbeiter und Kunden des Unternehmens wurde im Laufe der Zeit immer größer, selbst für das Kaiserhaus wurde gearbeitet und man durfte sich nun „Hoflieferant“ nennen. In den Ausstellungsräumen der „Anstalt für Glasmalerei“ in der Poststraße 7 wurden immer wieder Werke gezeigt, bevor sie an die Kunden ausgeliefert wurden. So z. B. 1894 die im Auftrag der Königin-Witwe von Hannover für die Kirche zu Hummelshain angefertigten Altarfenster. 1922 waren es u. a. vier farbige Monumentalbilder, entworfen und ausgeführt von der Naumburger Malerin Ina Hoßfeld, die für die Deutsche Gewerbeschau in München bestimmt waren. Ein weiteres Beispiel ist ein 1926 ausgestelltes Fenster für die Kirche in Schloss Seedorf bei Genthin.

Albert Hartung starb im Jahre 1917. Zunächst führte seine Witwe, Anna Hartung den Betrieb weiter, bis der 1895 geborene gemeinsame Sohn Hans seine Ausbildung an der staatlichen Zeichenschule in Dresden und eine anschließende Kaufmannslehre abgeschlossen hatte. Danach übernahm er die Geschäftsführung.

Kurz vor dem Ende des zweiten Weltkrieges, am 9. April 1945, wurde Naumburg bombardiert. Dabei wurde das Firmengebäude in der Poststraße zerstört und mit ihm ein großer Teil der Dokumentation von Werken der Firma. Schon vor dem Krieg war die Nachfrage nach Bleiglasfenstern eingebrochen, Hans Hartung führte nun nach dem Krieg in einer notdürftig hergerichteten Werkstatt mit einem Mitarbeiter den Betrieb weiter. Was allerdings schwierig war, da Blei und Zinn schwer zu beschaffen waren. Hartungs negative Einstellung zum neuen deutschen Staat brachte ihm 1959 wegen "staatsfeindlicher Hetze und Propaganda in besonders schwerem Fall" eine Haftstrafe von zwei Jahren ein. 1962 wurden seine Grundstücke in Volkseigentum überführt. Am 3. Dezember 1975 starb er in Weimar, wo er bei seiner Tochter lebte, die ihren kranken Vater bei sich aufgenommen hatte.

1966 übernahm Lutz Gärlich nach Abschluss der Meisterschule und dem Studium an der Hochschule für Kunst & Grafik in Ungarn die verbliebenen Firmenbestände mit div. Entwürfen, Fotobüchern sowie Geschäftsunterlagen. Gemeinsam mit Tochter Martina setzt er seitdem die lange Tradition der Glasgestaltungskunst von Wilhelm Franke in Naumburg fort. Seine Firma Domglas Naumburg ist weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Die Zerstörung des Hauses Poststraße 7 im Jahr 1945 hat große Lücken in das Archiv der Fa. Franke gerissen. Deshalb war es nicht möglich von Lutz Gärlich Details zur Anfertigung des Fensters zu erfahren. Blieb also nur die Hoffnung, dass der Fundort des Fensters, das Grundstück Ecke Bad-/Amsdorfstraße, weitere Informationen liefern kann.
Was ist über dieses Grundstück bekannt?

Am 30. Mai 1857 erschien im Kreisblatt eine Anzeige „Kuchengarten zu Grochlitz. Hiermit beehre ich mich freundlichst anzuzeigen, dass ich den 1., 2. und 3. Pfingstfeiertag mit frischen Stachelbeer-, Johannisbeer-, Pflaumen-, Matz-, Mohn- und verschiedenen Sorten Kaffeekuchen, sowie auch mit mehreren anderen Gebäcken bestens aufwarten werde. Witwe Petzold“. Leider wird der Ort nicht genauer bezeichnet. Manche vermuten aber, dass das die Anfänge einer später sehr beliebten Gaststätte auf diesem Grundstück waren. Einig ist man sich, dass spätestens folgende Ankündigung im Kreisblatt den Beginn einer langen Tradition als Ort zum Verzehr von Kaffee und Kuchen an dieser Stelle markiert: „Nachdem mir von Seiten des Wohlöbl. Magistrats zu Naumburg gütigst gestattet worden, in meinem vor 4 Jahren errichteten Verkaufs- und Gartenlocal vor hiesigem Orte nicht nur meine Backwaren, sondern auch Milch und Kaffee zum Genuss auf der Stelle feil zu halten, so mache ich dies hiermit bekannt, und bitte, mich durch recht zahlreichen Zuspruch zu erfreuen. Grochlitz, den 8. Febr. 1861. August Pätzoldt, Bäckermeister.“ In der gleichen Ausgabe bietet Pätzold gleich noch „Sonntag, Montag und Dienstag frische Pfannkuchen“ an. Nach Ostern des Jahres ist von Pätzoldt zu lesen, dass sein „Gartenhaus“ nunmehr „fortwährend“ geöffnet ist. Schon 1862 taucht in einer Annonce die Bezeichnung „Kuchenhaus“ auf, später manchmal auch „Kuchenhäuschen“.
Wie Eberhard Kaufmann 1998 im Burgenlandjournal schrieb, bot Pätzold neben einer breiten Palette verschiedenster Kuchen, unter denen Mohn- und Matzkuchen besonders beliebt waren, nur alkoholfreie Getränke an.

Nach Pätzolds Tod übernahm das Kuchenhaus ein Herr Liebau, der es zu einer vollen Gastwirtschaft erweiterte, in der es nun auch alkoholische Getränke gab. Anfang November 1897 erfahren wir dann aus der Kreiszeitung von einem neuen Besitzer der Lokalität: „Einem verehrten Publikum von Naumburg und Umgebung die ergebene Mitteilung, dass ich mit heutigem Tage das Restaurant und Café Kuchenhaus übernommenen habe und bitte, das meinem Vorgänger geschenkte Wohlwollen auf mich zu übertragen. Hochachtungsvoll Otto Schellenberger jun.“
In den folgenden Jahren ist von einer bedeutenden Vergrößerung des Lokals durch Um- und Neubauten zu hören. Mit einer Anzeige vom 10. September 1899 im Kreisblatt lud Schellenberger zur Eröffnung seiner „renovierten und vergrößerten Lokalitäten“ ein. Neben den langjährig bewährten Kuchensorten bot er Lager-, Bayerisch-, Grätzer und Weißbier sowie Naumburger und Elsässer Weine an. Im Oktober 1903 wird über einen weiteren größeren Anbau berichtet, der „wohl nun Raum für alle seine Besucher bieten könne.“ Alle diese Bemühungen Schellenbergers machten sein Lokal „zu einem viel und gerne besuchten, gemütlichen Aufenthaltsort.“

Auf ihrer Sitzung am 13. Mai 1905 genehmigte die Naumburger Stadtverordnetenversammlung den mit der Dorfgemeinde Grochlitz abgeschlossenen Eingemeindungsvertrag, der „durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 5. Oktober genehmigt und mit dem 6. November vollzogen wurde.“ Damit wurde das Kuchenhaus zu einem Naumburger Gasthaus.

1922 konnte Schellenberger schließlich auf ein 25jähriges Geschäftsjubiläum zurückblicken, was, wie Eberhard Kaufmann 1998 berichtet, beinahe sein letztes geworden wäre. „Vergangene Nacht wurde im Kuchenhaus bei Schellenberger in Grochlitz ein Einbruch verübt. Die Täter sind von der Straße aus durch den Saal in das Haus gelangt, dort durch mehrere Zimmer gegangen und in die Backstube gelangt. Hier machten sie sich über Lebensmittel wie Mehl, Zucker, Margarine, Kaffee und dergleichen her. Im Begriffe, die erbeuteten Waren einzupacken, wurden sie von dem Wirt überrascht, der auch sofort auf die beiden Männer das Feuer eröffnete. Einer von beiden wurde getroffen, vermutlich am linken Arm, hat geschrien, woraufhin Schellenberger von dem anderen mit einem Dolche angegriffen wurde. Der Täter hat versucht, ihm mit dem Dolche den Hals durchzuschneiden. Das gelang ihm aber im Laufe des Ringens nicht, der Stich ging ihm in die linke Schulter. Von dem zweiten Täter wurde ihm der Revolver entrissen, der dann versuchte, ihn zu erschießen. Der Revolver versagte und beide ergriffen dann mit dem Revolver und einigen Stücken Margarine und Zucker durch das halb von ihnen geöffnete Gaststubenfenster die Flucht.“ Ein Zeugenaufruf in der Zeitung blieb ergebnislos.

Am 20. Mai 1925 erscheint schließlich im Tageblatt ein Beitrag, der für unsere Fenstergeschichte von Bedeutung ist: „In ein Knusperhaus verwandelt. Das altbekannte Kaffeelokal ‚Kuchenhaus‘ in Grochlitz, Inh. O. Schellenberger, erhält jetzt ein neues Gewand, das ihm das Aussehen eines wirklichen Knusperhäuschens verleiht. Sind doch seine Wände mit Lebkuchenherzen, Pfefferkuchen mit Mandelstiften usw., allerdings nur gemalt, sinnig geziert. Schon von außen ist das ‚Kuchenhaus‘ also rein zum Anbeißen. Wenn der neue Anstrich erst fertiggestellt sein wird, wirkt es sicherlich noch viel verlockender auf groß und klein als bisher, und Naumburg ist dann um eine Eigenart reicher.“ Später wurde berichtet, dass auch in den Gasträumen Darstellungen aus dem Märchen von „Hänsel und Gretel“ zu sehen waren. Anlässlich des 30. Geschäftsjubiläums am 1. November 1927 heißt es dazu im Tageblatt, von der Verwandlung in ein Knusperhaus zeugt „nicht nur der Anstrich des Gebäudes, sondern auch das bunte Saalfenster, ‚Hänsel und Gretel‘ darstellend, als beide am Knusperhäuschen der alten Hexe ihren Hunger stillen.“

Die Umgestaltung des Kuchenhauses in ein „Knusperhaus“ hat aber keine Umbenennung des Objekts nach sich gezogen. In den Folgejahren erscheint in diversen Geschäftsanzeigen nur die Bezeichnung Kuchenhaus. Den Krieg überstand das Haus unbeschadet, so dass, wie Eberhard Kaufmann berichtet, in der Zeitung (?) am 15. November 1945 unter Geschäftlichen Empfehlungen die „Wiedereröffnung der Gaststätte Kuchenhaus“ angekündigt wurde. Nach Schellenbergers Tod verkauften seine Erben 1953 die Gaststätte an die Konsumgenossenschaft. Diese schloss das Haus für die Öffentlichkeit und richtete darin eine Großbäckerei ein.

In der LDZ vom 7. Oktober 1954 findet sich der Bericht über die Inbetriebnahme der Bäckerei. Nach den üblichen Einweihungsreden wurde „in einer sich anschließenden Besichtigung allen Teilnehmern der kurzen Eröffnungsfeier in ausreichendem Maße Gelegenheit gegeben, den technisch auf das modernste eingerichteten Bäckereibetrieb in allen Einzelheiten kennenzulernen.“ Bis 1978 wurde hier gebacken, dann ging eine inzwischen in Burgwerben eingerichtete neue Großbäckerei in Betrieb und am Standort Kuchenhaus wurde die Produktion eingestellt.

Fritz Füchtner, Jahrgang 1933, der letzte Betriebsleiter der Konsumbäckerei war es, der das Bleiglasfenster bei späteren Umbauarbeiten der Bäckerei vor der Vernichtung bewahrte. Ihm gebührt unser Dank dafür. Deshalb soll hier aus seiner kleinen Dokumentation zitiert werden, die alle Mitarbeiter der Bäckerei anlässlich der Schließung 1978 überreicht bekamen. „Zuletzt zählte der Betrieb rund 70 Betriebsangehörige. In drei Schichten wurde Tag und Nacht produziert. Ein großes Leistungsvermögen steckte in diesem Betrieb, dessen Versorgungsgebiet sich immerhin auf fünf Kreise ausgedehnt hatte. Die Kapazität der Betriebes lag bei 5 000 Broten und ca. 30 000 Brötchen täglich. 7 Fahrzeuge waren täglich im Einsatz, um die produzierten Mengen in 150 Verkaufsstellen aller Eigentumsformen auszuliefern. Doch all die Technik, all der Einsatz reicht nicht mehr aus, um die Versorgung abzusichern. Neue, größere und modernere Betriebe werden gebaut, und so stellt auch dieser Betrieb nach 25 Jahren seine Produktion ein.“

Fasst man die genannten Fakten zusammen, kann man zur Geschichte des aufgefundenen Fensters folgendes vermuten: auf Grund der Aufschrift „Glasmalerei W. Franke Naumburg a/Saale, Inh. Dusberger u. Hartung“ und den Eintragungen im Handelsregister, könnte das Fenster zwischen 1888 und 1908 hergestellt worden sein. Da die Umgestaltung des Kuchenhauses in ein „Knusperhaus“ erst 1925 erfolgte und das Fenster ein Motiv zeigt, das zu dieser neuen Ausgestaltung passt und auch 1927 im Tageblatt Erwähnung findet, wird es wahrscheinlich auch dann erst eingebaut worden sein. Wo es sich zwischenzeitlich befand wird vermutlich immer ein Geheimnis bleiben.