Die Naumburger Jakobsgasse einst und heute

20. Dezember 2025

Ende 2015 wurde in der Jakobsgasse der zweite Bauabschnitt beendet, in dessen Rahmen eine Reihe neuer Wohnhäuser entstanden, womit die Gasse „als zusammenhängender Straßenzug neu entwickelt“ wurde.

Eine Sanierung der Gebäude in der alten Gasse war dringend nötig, denn von den ehemals 29 Häusern standen 2004 nur noch 10. Davon war nur das Haus Nummer 2 saniert. Fünf Häuser, die Nummern 4, 16, 21, 23 und 24 standen leer, nur die Häuser 1, 5, 14 und 22 waren noch bewohnt. Die mittelalterlichen Keller waren zum Teil durch Betonplatten abgedeckt. Die Gasse war ein einziger großer Schandfleck im historischen Altstadtkern, wohin sich kaum noch jemand verirrte.

Die Jakobsgasse, die sich zwischen der bereits 1314 erstmals erwähnten Jakobsstraße im Norden und der Wenzelsgasse im Süden erstreckt, diente wohl ursprünglich als „Brandschneise“, um bei Häuserbränden ein Übergreifen des Feuers von einem Viertel auf das nächste zu verhindern. Vom Hof des Hauses Topfmarkt 14 gab es, zumindest zeitweise, einen weiteren, fußläufigen Zugang zur Jakobsgasse, der „Schkölens Gang“ genannt wurde.

Viel ist über eine solche unbedeutende Naumburger Gasse nicht überliefert. Sie war eine Gasse der „kleinen Leute“, wie einer Arbeit von Kurt-Uwe Baldzuhn zu entnehmen ist, in der er den Zustand in den Jahren 1878 und 1925 miteinander verglich. Hier lebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Handwerker, niedere Beamte, Alleinstehende und kleine Gewerbetreibende, bei einer Volkszählung im Jahr 1885 wurden 432 Einwohner erfasst. Baldzuhn zählte im „Adress- und Geschäftshandbuch für Naumburg 1878“ nur zwei Vertreter des „mittleren Bürgertums“. Knapp 50 Jahre später, 1925, war diese Schicht gar nicht mehr vertreten, dafür hatte sich die Anzahl der Haushalte in den zur Jakobsgasse gehörenden 29 Häusern von 93 im Jahre 1878 auf 113 im Jahre 1925 erhöht.

Bekannt ist, dass im Jahre 1891 die Jakobsgasse an die Kanalisation angeschlossen und 1895 erstmals gepflastert wurde. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gab es vermutlich eine Gasversorgung. Der bauliche Zustand der Häuser war so bescheiden, wie die hygienischen Verhältnisse. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es nur wenige WCs, die Notdurft wurde auf Aborten verrichtet.

Mit zu den bekanntesten Häusern der Jakobsgasse zählt sicherlich die Nummer 1, in der im Jahr 1820 die Wirtschaft „Zum goldenen Stiefel“ eröffnet wurde. Im Obergeschoss des Hauses befand sich ein 120 m² „großer“ Saal mit Empore und kleiner Bühne, der zum Treffpunkt zahlreicher Vereine, u. a. der „Claudius“-Liedertafel wurde. Bis 1906 war der „Goldene Stiefel“ ein gutbürgerliches Gasthaus. Nach einer Zwangsversteigerung erlebte die Gaststätte eine etwas „wilde“ Zeit, in der wohl auch „gewerblich betriebene Unzucht“ vorkam. Nach diversen Beschwerden und festgestellten Verstößen wurde das Lokal 1927 zunächst geschlossen, 1929 dann als „Alt-Naumburg“ wieder eröffnet.

Wolfgang K. wurde in der Jakobsgasse geboren und hat seine Kindheit und Jugend dort verbracht. Er erinnert sich: „In den 50iger Jahren wurde die Gaststätte von Walter Ziesolek und seiner Familie bewirtschaftet. Es waren Zeiten, in denen Gaststätten wenig Getränke und Speisen anboten. Bei Walter Ziesolek gab es aber alles, weil er gute Beziehungen hatte. Sein Bier bezog er vom Verleger Buchmann in der Freyburger Straße. Im Sommer, wenn es sehr warm war, gab es im Alt-Naumburg immer Bier und Limonade. Von Buchmanns bezog er auch frische Forellen und Karpfen, die aber nicht für jedermann bestimmt waren. Wenn man bei Walter Ziesolek einen Runde Schnaps bestellte, brachte er den Schnaps im Kronengriff, vier oder fünf in einer Hand und leckte sich dann die Finger ab. Wenn man ihn darauf aufmerksam machte, dass es ein Glas zu viel sei, bemerkte er, dass er gleich einen Schnaps für sich mitgebracht hätte. Der Saal in der Gaststäte wurde durch Chöre genutzt, es gab sogar Kanarienausstellungen. Im Vereinszimmer waren auch die Billardfreunde aktiv.“
Auch die anderen Häuser der Jakobsgasse, deren Bewohner und so manches Ereignis sind Wolfgang K. in lebhafter Erinnerung geblieben: 
Im Haus Nr. 4 hatte Tischlermeister Selditz seine Werkstatt, in der er sehr begehrte Küchenmöbel anfertigte. Der ständig auf der Herdplatte stehende Topf mit Knochenleim verbreitete einen für uns Kinder unangenehmen Geruch.
Die Jakobsgasse 6 bewohnte die Familie Buttstätt. Otto Buttstädt, weit über 70 Jahre, hatte ein Motorrad mit Seitenwagen, Baujahr 1927. Da das Haus kein Tor hatte, wurden das Motorrad und der Seitenwagen einzeln durch die Haustür geschoben und dann montiert.
Im Haus Nr. 7 wohnte Familie Schulz mit Vater Louis Lindig, der ein Fuhrgeschäft hatte. Sein Transportwagen ‚parkte‘ im Weingarten, während sein Pferd in den Stallungen hinter dem Haus untergebracht war. Auch hier gab es kein Tor, so dass das Pferd nur mit eingezogenem Kopf durch die Haustür zu seinem Stall kam. Das war für die Kinder immer ein Erlebnis.
Vor der Fleischerei im Haus Nr. 8 versammelten sich oft die Kinder, weil sie von der Verkäuferin hin und wieder einen Wurstzipfel zugesteckt bekamen. Das wusste auch das Naumburger Original Harry Piehl, der den Eingang mitunter so lange versperrte, bis er auch etwas abbekam.
In der Nr. 13 wohnte Frau Stößel, die Chefköchin vom Bürgergarten, die als Geschichtenerzählerin bekannt und bei allen Kindern beliebt war.
Das Eckhaus zur Wenzelsgasse bewohnte der Dachdeckermeister Otto, dessen sehr schön anzusehendes Haus wegen Baufälligkeit schon Anfang der 60iger Jahre abgerissen wurde.
Gegenüber lag die Pension Horn mit Eingang von der Wenzelsgasse aus.
Im Haus Nr. 16 befand sich der kleine Laden des Kaufmannes Böhle, in dem es alles Mögliche gab, wie Mehl, Nudeln, Sauerkraut usw. Wir Kinder waren besonders von den großen Bonbongläsern mit den herrlichen bunten Zuckerstangen beeindruckt.
Aus dem Fenster im Haus Nr. 18 schaute häufig der ehemalige Großjenaer Bürgermeister Töpel rauchend heraus. Er war ein begeisterter Besucher von Fußballspielen und wenn er heimkam, hieß es immer, jetzt kommt Sportfreund F6.
Eines der größten Häuser war die Nr. 19, vom Maurer Issermann und seiner Familie bewohnt, die fleißig Brennmaterial im Wald sammelte.
Das Haus Nr. 20 hatte ein wunderschönes Kellergewölbe, in dem Äpfel, Birnen und Kartoffeln gelagert wurden. Im vorderen Teil wohnte die über 80jährige Frau Klein, deren große Stube keine Dielen hatte, sondern mit alten Grabplatten gepflastert war. Jahrelang lebte die Frau über einem Schatz, der 2005 zufällig gehoben wurde (s. u.). Im Hinterhaus stellte der Zuckerbäcker und Konditor Brüggemann Bonbons und Kuchen her, die dann an einem Stand am Lindenring verkauft wurden.
Im Haus Nr. 21 wohnten viele Familien, rechts unten befand sich die Werkstatt des Tischlers Büchner, der sich mit Kleinreparaturen über Wasser hielt. Schon in den 60iger Jahren ging sein Geschäft ein.
Das Haus Nr. 22 war schön gefliest. Hier befand sich ein von Frau Richter betriebener Milchladen, in dem die Milch in Milchkannen abgefüllt gekauft werden konnte. Die Butter lag auf einem Brett in einem großen Block, von dem die gewünschte Menge abgeschnitten wurde. Eine große Aufregung gab es eines Tages, als ein Jugendlicher sich die Geldkassette schnappte und damit davon rannte. Alle stürmten hinterher und schon am Weingarten wurde er gestellt und später vom Abschnittsbevollmächtigten abgeführt.
Im Haus Nr. 23 und dem Garten dahinter, der sich bis zum Weingarten hinzog, züchtete die Familie Krampe Hühner und Kaninchen.
Das Haus Nr. 25 beherbergte eine Fahrradwerkstatt, die Familie Reinhardt vom Mechaniker Possögel übernommen hatte.
In den 1970iger Jahren verfielen die Häuser in der Jakobsgasse immer mehr und mussten nach und nach abgerissen werden.“ Soweit die Erinnerungen von Wolfgang K.

Am 29.11.2005 wurde plötzlich wieder das Interesse auf die Jakobsgasse gelenkt. Bei Aushubarbeiten im Bereich des ehemaligen Hauses Nr. 20 fielen plötzlich Geldstücke aus der Schaufel des Baggers. Man konnte insgesamt 498 Silbermünzen sicherstellen, die sich zum Teil noch im fast prägefrischen Zustand befanden. Untersuchungen ergaben, dass die zwischen 1470 und 1562 geprägten Münzen aus den verschiedensten Gegenden des Reiches zwischen Lübeck und Zürich stammen.

Schon in den 1990er Jahren begann die Stadt gezielt Grundstücke und Altbauten in der Jakobsgasse aufzukaufen, um die Entwicklung des Straßenzuges besser steuern zu können. Durch Öffentlichkeitsarbeit u. a. wurde versucht, die Parzellen zu vermarkten. Eine Aktion war zum Beispiel ein zeitweise bespielbarer Minigolfplatz auf den potentiellen Bauflächen, der den Standort insbesondere unter Familien bekannt machen sollte. Als sich trotz aller Maßnahmen keine privaten Investoren fanden, übernahm Anfang 2011 die kommunale Wohnungsgesellschaft Naumburg (GWG) das Areal.
Inzwischen hatte es 2008/09 in vier Städten Sachsen-Anhalts Baulücken-Wettbewerbe gegeben, so auch zur Bebauung der Naumburger Jakobsgasse. Daran beteiligten sich eine ganze Reihe von Architekturbüros und freier Architekten. Die Jury vergab den ersten Preis an die PINARDI ARCHITEKTEN aus der Lutherstadt Wittenberg und stellte fest, das ihr Vorschlag es „in besonders sensibler Weise schafft, die historische Stadtstruktur in allen ihren Dimensionen … wieder aufzunehmen. Es gelingt die schwierige Gratwanderung der Fortschreibung des Überlieferten mit zeitgenössischen Mitteln.“
Die drei erstplatzierten Entwürfe sahen die Einhaltung der historischen Bauflucht vor. Doch ausgerechnet der Vorschlag der GAUDLARCHITEKTEN aus Dessau-Rosslau, der im Wettbewerb nur den 4. Platz belegte und Häuser in Quaderform mit Flachdächern in Vor- und Rücksprüngen von der Straßenkante abgesetzt vorsah, wurde für die Bebauung ausgewählt. Harsche Kritik an dieser Entscheidung war die Folge. Im Tageblatt wurde 2011 aus einem offenen Brief von Klaus Baumgart zitiert: „Es muss unumwunden festgestellt werden, dass sich anhand des Vorgangs Jakobsgasse Bindungslosigkeit mit Ignoranz, Traditionsverweigerung mit Ablehnung der geschichtlichen Überlieferungen, Übersteigerung des eigenen Egos mit Wichtigtuerei und Ahnungslosigkeit verbindet.“ Nicht nur Baumgart war davon überzeugt, dass mit dieser Bebauung ein Schandfleck durch einen neuen ersetzt wird. Ganz anders klang die Einschätzung vom damaligen Verkehrs- und Bauminister Thomas Webel, der anlässlich der Übergabe des ersten Bauabschnitts 2013 von einem „wahren Kleinod“ sprach. Egal wie man es wendet, der Kontrast der modernen Bauten samt der viel diskutierten Flachdächer zur historischen Altstadt lässt sich nicht wegdiskutieren. Bleibt die Frage, was wohl die Beweggründe für die Auswahl gerade dieser Bebauungsvariante gewesen sein mögen? Wir werden es wohl nie erfahren.

Positiv ist natürlich zu bewerten, dass 27 neue Wohnungen entstanden, für die die GWG nicht unerhebliche Investitionen tätigte, unterstützt vom Land, mit rund 2,5 Millionen Euro aus Programmen der Städte- und Wohnungsbauförderung und knapp 1,5 Millionen Euro aus dem Förderprogramm „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“. 
Nur ein Versprechen seitens der Stadt wurde zwar 2013 gegeben, aber bis heute nicht eingehalten, das Anlegen eines völlig neuen Weges als Querung vom Holzmarkt zur Jüdengasse, für den sogar schon ein Grundstück gekauft wurde.

 

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