Bei -30 Grad für halbes Fährgeld zu Fuß über die zugefrorene Saale

14. Februar 2021

Alle Jahre wieder beginnt im Spätherbst das große Rätselraten: wie wird der bevorstehende Winter wohl werden, bleibt er mild oder bringt er uns Schnee, Eis und Kälte? Auch im Herbst 1928 wird das nicht anders gewesen sein.

Damals zeigte sich der Herbst von seiner freundlichen Seite. Einem teilweise noch sommerlichen und viel zu trockenem September folgte ein milder Oktober mit Temperaturen etwas über dem langjährigen Mittel. Dem schloss sich ein ausgesprochen warmer November an, der allerdings sehr niederschlagsreich war. Erst in der zweiten Dezemberwoche stellte sich winterliches Wetter ein, mit leichtem Frost und unerheblichen Schneefällen. Trotzdem war vor Weihnachten die Saale oberhalb der Oeblitzschleuse schon fast zugefroren und gegenüber der Schönburg hatte sich eine Eisbarriere gebildet. In einer „Wetterplauderei“ im Naumburger Tageblatt vom 20. Dezember wurde kundgetan, dass „die Wahrscheinlichkeit für einen ausgesprochen strengen Winter nicht groß“ sei. „Denn die wirklich strengen Winter pflegen fast stets sehr früh schon im Herbst mit strenger Kälte zu beginnen und Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten.“ Wie sehr der Autor dieser Zeilen irrte, zeigte der weitere Witterungsverlauf, der den Winter 1928/29 zu einem der kältesten des 20. Jahrhunderts werden ließ.

Doch zunächst kam das übliche Weihnachtstauwetter, die Temperatur stieg und der Schneefall ging in Regen über. Einem milden Wetter zwischen den Jahren folgte ein sonniger Jahresanfang mit leichtem Frost, was als „glückbringendes Vorzeichen für 1929“ gedeutet wurde. Danach nahm der Frost an Schärfe zu, ohne „jedoch ein ungewöhnliches Ausmaß“ zu erreichen. Die Wetterstation an der Sternwarte in Jena registrierte am 18. Januar aber immerhin eine Tiefsttemperatur von -19 °C.

Auf der Saale bildeten sich in Höhe der Schönburg meterhohe Eisbänke, wodurch das Wasser gestaut wurde und der Pegelstand bei Schellsitz bis zu zwei Meter über Normal erreichte. Erste Wagemutige liefen auf dem Eis der Saale am Gänsegries Schlittschuh und auf das Eis in Höhe des Felsenkellers wurden zeitweise Bohlen gelegt, um einen Fußgängerverkehr von und nach Schellsitz zu ermöglichen. Schneeverwehungen behinderten auf den Nebenstraßen den Verkehr erheblich, der Kraftfahrzeugverkehr war nur noch auf einigen Hauptstraßen möglich. Zeitweise orkanartiger Sturm wehte nach starken Schneefällen freigelegte Streckenabschnitte immer wieder in kürzester Zeit zu, beim Zugverkehr gab es beträchtliche Verspätungen.

DomDie vierte Januarwoche brachte zunächst Tauwetter. „Ein warmer Fön hat der Natur über Nacht ihr weißes Winterkleid ausgezogen.“ Der Schnee schmolz schnell, nur die mannshohen Schneewehen hielten sich. Das Wasser in der Saale stieg und es kam zu ersten Eisaufbrüchen. Doch die Erwärmung war nur von kurzer Dauer und der Januar endete mit heftigen Schneefällen und einer Tiefsttemperatur von -19 °C.

Die in den Folgetagen erhoffte Milderung trat nicht ein. „21 Grad unter Null! – Der Kälterekord“ lautete die Schlagzeile im Tageblatt vom 1. Februar, schon zwei Tage später waren es -25 °C. Nicht nur unsere Region, sondern fast ganz Deutschland, alle östlich gelegenen Länder und der Balkan waren von der Kälte betroffen, während in Frankreich Temperaturen über 10 Grad Wärme gemessen wurden. Schlagzeilen wie „Bodensee und Untersee zugefroren“, „Der Bosporus gefroren“ und „Die Lagunen in Venedig zugefroren“ waren im Naumburger Tageblatt zu lesen. Doch es kam auch in unserer Region noch schlimmer. Am 4. Februar wurde berichtet, dass in der „Nacht sogar 26-29 Grad Kälte in der äußeren Stadt und auf den Saalewiesen bei Roßbach 30 Grad“ gemessen wurden. „Für die Briefträger, Milchfahrer, Autofahrer usw. ist das kein Spaß. Die Schaufenster der Geschäfte sind dick mit Eis überzogen. In die Häuser ist die Kälte überall eingedrungen, die Öfen verschlingen unheimliche Kohlemengen. Die bittere Winterkälte kommt vielen Hausbesitzern noch besonders dadurch teuer, da ungünstig liegende Rohre zerfrieren.

Die arktische Kälte hielt den ganzen Februar über an. Tiefsttemperaturen unter -20 Grad waren an der Tagesordnung, nur an einzelnen Tagen stieg die Temperatur bis auf -5 °C an. An der Mündung der Unstrut in die Saale, wo wegen der starken Strömung selbst bei strengem Frost das Wasser nie vollständig zufriert, bildete sich so eine dicke Eisschicht, dass der Personenverkehr über das Eis direkt am Fährseil entlang völlig gefahrlos vor sich ging. Anstatt des Fährgeldes erhob der Fährmann einen „Eiszoll“ in Höhe der Hälfte des bisherigen Fährgeldes.

Folgen der Kälte waren Kohlen- und Wassermangel. Kohlenmangel, weil der Bedarf enorm zugenommen hatte und in den Gebieten des Mitteldeutschen Braunkohlensyndikats die Kohleförderung und Brikettherstellung nur noch 80 % der normalen Werte erreichte. Wassermangel, weil die Anzahl der eingefrorenen Hauswasserleitungen und der Brüche in den Straßen-Zuleitungsrohren täglich zunahm. Das hatte das Abstellen von Hauptwasserleitungen zur Folge, wodurch ganze Straßenzüge ohne Wasser waren. Nicht vom Schnee und Eis freigehaltene Verschlussdeckel für die Absperrventile waren die Ursache dafür, dass bei Rohrbrüchen Hauszuleitungen nicht gleich abgesperrt werden konnten und dadurch mancher Keller voll Wasser lief. Mit Hilfe der Feuerwehr musste dann das Wasser eimerweise herausgeschöpft werden.

Die Reparatur der Bruchstellen war äußerst schwierig, weil man wie z. B. vor dem Hause Markt 5 „mehrere Tage angestrengter Arbeit allein dazu brauchte, um überhaupt in den tief vom Frost gehärteten Boden einzudringen.

Soweit möglich, wurden in einzelnen städtischen Gebäuden Zapfstellen zur Wasserversorgung eingerichtet. So konnten die Anwohner der Salzstraße z. B. Wasser im Hospital am Kaiser-Wilhelm-Platz (heute Kramerplatz) holen. Andere waren gezwungen, „die Menschenfreundlichkeit der Hausbesitzer in Anspruch zu nehmen, die noch im Besitz des köstlichen Nasses waren.“ So versorgten manche Hausbesitzer 20 bis 30 andere Haushalte. Das brachte „allerhand Unzuträglichkeiten mit sich, zumal dann, wenn sich die Zapfstelle in deren Küche befand.“ Auch der Preis, der für einen Eimer Wasser mit ca. 10 Litern zu zahlen war, sorgte für Diskussionen. Obwohl nach Berechnungen ein Preis von 1 bis 2 Pfennig pro Eimer angemessen erschien, nahmen manche Hausbesitzer 5 bis 10 Pfennige.

Um Kohlen zu sparen brachte die Witterung für die Schüler Mitte Februar „Kälteferien“. Erst am 4. März wurde der Unterricht wieder aufgenommen.

Gegen Ende Februar glaubte man das Schlimmste überstanden zu haben. Die Sonne schien herrlich warm, Schneewasser tropfte von den Dächern. Doch schnell sank die Temperatur wieder und dichtes Schneegestöber zeigte, dass der Winter noch nicht vorbei ist.

Noch immer kam es in der Stadt fast täglich zu neuen Rohrbrüchen. Als unmittelbar neben den Marktbrunnen die Hauptwasserleitung brach, unterspülte das austretende Wasser das Marktpflaster und suchte sich einen Weg nach oben. Dadurch waren die Herrenstraße und die Jakobstraße zeitweise von der Versorgung abgeschnitten. Das gleiche Schicksal traf die Anwohner des Holzmarktes, und der Garten- und Jägerstraße, wobei auch die Straßendecke erheblichen Schaden nahm. Die Reparatur dauerte zuweilen mehrere Tage, weil es nur schwer möglich war, in den tiefgefrorenen Boden einzudringen. Mit Hilfe von Koksöfen wurde der Boden schichtweise aufgetaut, um an die beschädigten Rohrleitungen heranzukommen.

Gegen Ende der ersten Märzwoche stiegen die Tiefsttemperaturen bis um den Gefrierpunkt herum an und hielten sich auf dem Niveau fast bis zum Monatsende. Aufräumen und auftauen war nun angesagt. In der Innenstadt wurden die Schnee- und Eismassen aufgehackt, aufgeladen und weggeschafft. Auch mussten Ablaufmöglichkeiten für das Schmelzwasser geschaffen werden. Außerhalb blieben die Straßen wegen der Schneeverwehungen zum Teil noch wochenlang unpassierbar. Zum Auftauen der Wasserleitungen wurden verschiedene Techniken eingesetzt. Die Verwendung von Lötlampen hatte zahlreiche Brände zur Folge, mit teilweise größeren Schäden. Vom Wasserwerk wurden Auftautransformatoren beschafft und damit auf „elektrischem Wege“ die Wiederherstellung der Wasserversorgung vorangetrieben.

Mitte März begann das Eis auf der Saale aufzubrechen. Eisschollen trieben die Saale abwärts, türmten sich stellenweise hoch auf und bildeten Barrieren, wodurch das Wasser aufgestaut wurde und Überschwemmungen drohten.

Nachdem es zum Osterfest Ende März geregnet hatte, meldete sich Anfang April der Winter für einige Tage mit heftigem Schneegestöber und Minusgraden zurück. In der Stadt hatte man ständig mit neuen Wasserrohrbrüchen zu kämpfen und erst Ende April war die Wasserversorgung weitestgehend wiederhergestellt.

Noch bis in den Mai hinein blieben die täglichen Tiefsttemperaturen nur wenig über dem Gefrierpunkt. Nachfolgende Zeilen, im Naumburger Tageblatt veröffentlicht, drücken aus, was die von der Witterung gebeutelten Menschen fühlten:

Die Finken klagen, wo bleibt der Lenz? Und keiner kann sagen, denn keiner erkennt´s. Mit all seinen Reizen hat er sich gedrückt, wir müssen heizen, die Welt ist verrückt. Es frieren die Quellen, die Ohren sind blau, die Nasen schwellen, der Himmel ist grau. Lasst läuten die Glocken, Sturm und Braus, kauft warme Socken, der Lenz fällt aus!

Temperaturverlauf

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