Ein ungesühntes Verbrechen, mit dessen Folgen wir noch heute leben müssen

20. Oktober 2021

Man schrieb das Jahr 1921, als in Naumburg ein Mann beschuldigt wurde, ein Verbrechen zu begehen, ein Verbrechen an der Stadt und ein Verbrechen an seinem guten Namen. Diese „ruchlose Tat“ geschah mitten in der Stadt am Markt.

Bevor diese Ungeheuerlichkeit hier näher beleuchtet wird, wollen wir uns der Vorgeschichte widmen.

Das Äußere des ersten Hauses am Markt, unseres Rathauses, befand sich 1921 in einem Zustand, der eine Instandsetzung dringend erforderlich machte. „Nach und nach haben sich an vielen Stellen die Dachziegel aus dem Verband gelöst, wodurch Regenlöcher entstanden sind, die bisher immer nur notdürftig ausgebessert werden konnten. Auch die Dacherker zeigen starke Verwitterungsspuren. Das gelegentliche Herunterfallen von Ziegelsteinen bedeutet eine ernste Gefahr für die Passanten auf den Straßen.

Auch im Inneren des Rathauses gab es Anlass zu Veränderungen. Das bis dahin im zweiten Obergeschoss des Gebäudes ansässige Landgericht war am 30. April 1921 ausgezogen. Das bot die Möglichkeit, das Schulgebäude in der Seilergasse wieder seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen, indem die dort untergebrachten Dienstzweige der Stadtverwaltung ins Rathaus umziehen konnten. Mit diesem Umzug machte sich allerdings eine grundlegende Neuverteilung sämtlicher Geschäftsräume erforderlich. Doch zuvor war es notwendig und sinnvoll, eine Renovierung und Modernisierung des Hauses vorzunehmen. Die alte, zum Teil nicht mehr gebrauchsfähige Gasleitung sollte durch eine vollständige elektrische Lichtanlage ersetzt, die Fernsprechverbindungen neu geordnet und schließlich die sehr verwohnten und abgenutzten Räume des Rathauses durch Neuanstrich von Wänden, Decken und Türen wiederhergestellt werden.

Ebenso wichtig waren mehrere dringend notwendige „Verkehrsverbesserungen“ innerhalb des Rathauses, nämlich eine neue Verbindungstreppe zwischen dem ersten und zweiten Obergeschoss, zwei Aktenaufzüge, die den Verkehr zwischen verschiedenen auf Zusammenarbeit angewiesenen Dienststellen vermitteln, die sich nicht nebeneinanderlegen ließen, sondern übereinandergelegt werden mussten und ein Kohlenaufzug, der vom Keller bis zum zweiten Obergeschoss reicht.

An notwendigen finanziellen Mitteln wurden 220.000 Mark für die äußere und 800.000 Mark für die innere Sanierung kalkuliert. Während erstere Summe in einer Stadtverordnetenversammlung im August 1921 ohne Debatte und Widerspruch bewilligt wurde, gab es zur zweiten Summe kontroverse Diskussionen. Nach einer namentlichen Abstimmung fand der Plan dann doch eine Zustimmung.

Die Ausschreibung der geplanten Arbeiten scheint damals wesentlich schneller als heute vonstattengegangen zu sein, denn schon einen Monat später zeigten Bauschutt und Gerüste am Rathaus, dass die Erneuerungsarbeiten dort im vollem Gange waren.

Immer, wenn die Informationspolitik zu wünschen übriglässt, bieten Veränderungen jeder Art den Nährboden für Gerüchte. So scheint es auch damals gewesen zu sein. Abenteuerliche Theorien zu den Bauarbeiten machten die Runde. Vielfach herrschte die Vorstellung, dass das Innere des Rathauses „prunkvoll ausgebaut wird“, und das drei Jahre nach Kriegsende, wo alles knapp und teuer war. Das Naumburger Tageblatt bemühte sich um Aufklärung: „Da muss man zunächst bedenken, dass die Baukosten heute bereits das zwanzigfache der Friedenspreise erreicht haben. Für dieselben Arbeiten würde also im Jahre 1914 nur der recht bescheidene Betrag von etwa 40.000 Mark aufzuwenden gewesen sein. Wer sich dies vergegenwärtigt, wird schon von selbst bei einiger Überlegung zu dem Ergebnis kommen, dass sich für diese unbeträchtliche Summe ein so umfangreiches Gebäude wie unser Rathaus nicht prunkvoll ausgestalten lässt.

Rathaus Kugeln kleinNachdem man die ersten Rathausgiebel eingerüstet hatte, entdeckte man, das in jeder Giebelabdeckung an drei Stellen Steinzapfen saßen, die wohl früher eine Bekrönung getragen hatten. Und was „erdreistete“ sich der damalige, für die Arbeiten verantwortliche Stadtbaurat Friedrich Hoßfeld (* 1879 Naumburg; † 14.02.1972 Stuttgart; von 1909 bis 1930 Stadtbaurat in Naumburg)? Er ließ auf jeden der freigelegten Zapfen eine Kugel aufsetzen, wie wir sie heute noch sehen können. Doch er hatte die Rechnung ohne die Naumburger Bürger gemacht, denen dieser neue, ungewohnte Anblick nicht behagte. Die Vorwürfe gipfelten in einem offenen Brief an den Stadtbaurat, in dem ihm mit dieser Bekrönung der Giebel ein Verbrechen unterstellt wurde. „Denn ein Künstler, der den Geschmack des Volkes verderbt, der ein altes Kunstwerk lächerlich macht, begeht doch wohl ein Verbrechen?“ Weiter heißt es in dem Schreiben: „Jedermann liebt das Rathaus in seiner schlichten Erscheinung mit den wuchtigen Giebeln. Nun haben Sie das Bedürfnis, diese Wucht zu verniedlichen, die großen wuchtigen Giebelbögen mit Ornamenten zu versehen. Und Sie sind auf Kugeln verfallen. Schaudervoll und stillos! Kugeln, die in der Gotik nicht als Ornament verwendet wurden. Die Kugel, dies Sinnbild flüchtigen Gleichgewichts, kann doch, wie jedes Kind weiß und empfindet, nur auf ebener Grundlage im Ruhezustand beharren. Sie aber wollen der Physik ins Gesicht schlagen und Kugeln auf runde Bögen kleben! Es wird aussehen, als hätte der Nachbar Apotheker eine Schachtel Pillen darüber ausgestreut. Gehen Sie in sich, Herr Baurat, tun sie einen Schritt zurück. Es mag schwer sein; die Kugeln sind bestellt, kosten sicher ein paar tausend Mark. Aber besser, der Rat der Stadt runzelt mal die Stirn, als dass unser ernstes Rathaus zum Kinderspott wird. Schenken Sie die Kugeln einem Kegelverein, einem Athletikclub zum Steinstemmen! Nur weg mit den lächerlichen Kugeln!

Stadtbaurat Hoßfeld ließ diese Vorwürfe natürlich nicht auf sich sitzen. In seiner „Verteidigungsschrift“ führte er aus: „Ungotisch sind die ‚Pillen‘ allerdings. Das liegt daran, dass die runden Giebel zu einer Zeit auf unser Rathaus gesetzt worden sind, als die Gotik ihre Alleinherrschaft bereits verloren hatte und die neue Kunst der Renaissance von Italien her sich auch die deutschen Geister eroberte. In der Übergangszeit kommt es vor, dass nebeneinander die hergebrachten gotischen und die neuen ‚welschen‘ Formen verwendet worden sind. Das ist auch bei unseren Giebeln am Rathaus der Fall. Während das Maßwerk, welches die Fläche belebt, noch durchaus gotisch empfunden wird, ist der halbkreisförmige Abschluss der Giebel mit seinen Kugelbekrönungen eine Renaissanceform. Der Meister, der die Giebel gebaut hat, hat vielleicht gar nicht gewusst, dass seine runde Giebelform aus Venedig stammt, wo sie schon etwa 80 Jahre früher Anwendung gefunden hatte. Wer also von Stillosigkeit spricht, verrät einen bedauernswerten Mangel an Kenntnis deutscher Kunst- und Kulturgeschichte.

Nun führen Sie aber noch allgemein-ästhetische Bedenken ins Feld und sagen, dass sich Ihr physikalisches Gefühl gegen das Anbringen von Kugeln auf schiefer Ebene sträubt. Was hat denn aber die Physik mit künstlerischen Absichten und Wirkungen zu tun? Das sind ganz verschiedene Gebiete, die nichts miteinander zu tun haben! Aber der Beschauer eines Kunstwerkes soll nicht an Physik denken. Er soll rein die Erscheinung auf sich wirken lassen. Wenn wir nun heute unser Rathaus wieder erneuern, sollen wir da nicht auch diesen schlichten Schmuck wieder so ergänzen, wie er einst vom Erbauer gewollt wurde? Welcher Eingeweihte kann darin ein Verbrechen sehen und nicht viel mehr eine pietätvolle Handlung. Billige Witze mit Pillen und Kegelkugeln sind allerdings leicht gemacht, werden aber der tiefen geschichtlichen und künstlerischen Bedeutung dieses Schmucks nicht im mindesten gerecht.

Mit diesem im Naumburger Tageblatt veröffentlichtem „Schlagabtausch“ scheint die Auseinandersetzung zu diesem strittigen Thema beendet worden zu sein. Allerdings gibt dem Autor folgendes zu denken: Friedrich Hoßfeld erwähnt, dass an einem der ebenso wie am Rathaus geformten Giebel des Schlösschen noch heute (1921) eine Kugel zu sehen sei. Beim Betrachten älterer Fotos kann man diese tatsächlich entdecken. Heute ist diese Kugel allerdings verschwunden. Möglicherweise wurde sie im Zuge der Sanierung des Schlösschens vor der Landesausstellung zum Naumburger Meister 2011 entfernt. Sollte da wieder ein „Kugelgegner“ am Werk gewesen sein?

Der ursprüngliche Plan, die Bauarbeiten am Rathaus noch 1921 abzuschließen, konnte nicht eingehalten werden. Erst im August 1922 werden die Bauarbeiten als „nunmehr so gut wie beendet“ bezeichnet und erklärt, dass das Ergebnis dem Stadtbaurat Hoßfeld „ein neues Ruhmesblatt in seiner baukünstlerischen Wirksamkeit“ hinzufügt. Allerdings wurde auf einer Stadtverordnetensitzung im Juli 1922 festgestellt, dass „der Umbau des Rathauses im Äußeren und Inneren doch noch viel teurer geworden ist, als veranschlagt war.“ Wen wundert es, heutzutage ist das meistens nicht anders.

Zum Glück mussten zumindest die Kosten der Arbeiten im Inneren das Rathauses nicht vom Steuerzahler getragen werden. Der Stadt hatte sich mit der Ausgabe von Notgeldscheinen eine andere Geldquelle aufgetan. Eigentlich sollte mit dem Notgeld der infolge des Krieges herrschenden Kleingeldknappheit abgeholfen werden. Aber insbesondere die Notgeldserie mit Walter Heges Kirschfest-Scherenschnitten erwies sich für die Stadt als gute Möglichkeit, Geld zu verdienen. Händler und Sammler aus aller Welt kauften die Geldscheine zum Teil in großen Mengen, wodurch bis Ende 1921 über 900.000 Mark in die Stadtkasse flossen. Dieser Betrag wurden zur Deckung der Sanierungskosten eingesetzt.

Heute erinnern an die seinerzeit durchgeführten Bauarbeiten am Äußeren des Rathauses noch die Inschrift unter dem Hauptgesimse „Die Bürgerschaft Naumburgs erneuerte dieses Hauses Äußere in den Jahren 1921/22“ und natürlich die damaligen Steine des Anstoßes, die Kugeln auf dem halbkreisförmigen Abschluss der Giebel.