"Selbst der aller dünnste Bengel wird nun zum Posaunenengel" - Hilfsaktionen vor 100 Jahren für unterernährte Kinder und Jugendliche

21. November 2021

Fast täglich erreichen uns vor allem aus Afrika und Südasien Nachrichten über hungernde Menschen. Die Gründe dafür sind meistens Naturkatastrophen, Armut und Kriege. Vor 100 Jahren sah es bei uns nicht viel anders aus. Hunger, soziales Elend und Wohnungsnot prägten das Alltagsleben.

Die Lebensmittelrationierung wurde nach dem ersten Weltkrieg nur allmählich abgebaut: 1919 zunächst für Eier und Fisch, dann für Kartoffeln und Fleisch, später auch für Brot, Getreide, Butter und Milch. In einem Bericht der Deutschen Kinderhilfe von Ende 1920 heißt es: Unheilbar werden die Folgen jahrelanger Nahrungsnot für unsere Kinder sein. Eine große Zahl von ihnen ist „durch jahrelange Unterernährung und mangelnde Kleidung rachitisch, siech und elend geworden! Und dies alles, obwohl die Mütter bis zur äußersten Selbstverleugnung gedarbt haben, um ihren Kindern das Wenige, dass sie wirtschaftlich leisten konnten, zuzuwenden.

Wie heute bemühte man sich auch damals, etwas zur Linderung dieser Not zu tun. Über zwei solcher Hilfsaktionen für unterernährte Kinder und Jugendliche soll hier berichtet werden.

Vom 8. Dezember 1920 bis zum 3. Mai 1921 gab es in Naumburg die sogenannte Milchkakao- Speisung der hiesigen bedürftigen Schulkinder. Von der Zentralstelle der Vereine vom Roten Kreuz waren der Stadt dafür 14.400 Büchsen Milch, 13 Zentner bester Kakao und über 50 Zentner Weizenmehl, gespendet von deutschen Landsleuten in Amerika, geliefert worden. Um festzustellen, wer bedürftig ist, wurden alle 5 000 Schülerinnen und Schüler sämtlicher städtischen Schulen, des Seminars, des Domgymnasiums und der Höheren Privat- Mädchenschule vom neuen Direktor des Krankenhauses, dem stellvertretenden Stadtarzt Dr. Becker untersucht. Diese Untersuchungen gaben „erschütternde Einblicke in die herrschende Not des Volkes und den bejammernswerten Zustand unserer unterernährten Schuljugend“ ist in einem Bericht des Naumburger Tageblatts zu lesen. Über 2 000 der Untersuchten stellten sich als bedürftig heraus, davon konnten ca. 1 500 Schülerinnen und Schüler an der Speisung teilnehmen, jeweils ein Drittel von ihnen für den Zeitraum von 16, 9 bzw. 7 Wochen.

Wenzelsgasse11Zunächst wurde eine geeignete Milchkakao-Mischung gesucht, „die ihre Wirkung nicht verfehlen konnte“, dann erfolgte die Fertigung unter Aufsicht verschiedener Haushaltslehrerinnen. Das geschah im „Städtischen Speisehaus“ in der Fischgasse 11. In diesem Gebäude hatte seit 1871 der Brauer Böttner eine Brauerei und eine Kneipe betrieben, die im ersten Weltkrieg einging. 1916 kaufte der Fabrikant Julius Hoeltz das Haus, richtete darin eine Volksküche ein (auch als Kriegsküche oder Armenküche bezeichnet) und schenkte es dann der Stadt.

Damit die Zubereitung und Ausgabe im Sinne der Spender vor sich ging, sorgten die Lehrerinnen dafür, dass die Büchsen restlos geleert, die Kakaomasse gewissenhaft zugewogen, gut durchgerührt und schließlich mit der vorgeschriebenen Milchmenge in das kochende Wasser geschüttet wurde. Um 9 Uhr wurden dann durch die Hausmeister der einzelnen Schulen der Milchkakao und Brötchen abgeholt und mittels Thermosgefäßen, Milchkannen und einem fahrbaren Feldkessel in die Schulen transportiert. Dort wurde der Milchkakao zunächst in größere Gefäße geschüttet und dann durch Lehrer, Lehrerinnen oder Mütter ausgeteilt. Jedes bedürftige Kind erhielt täglich einen halben Liter Milchkakao und ein Brötchen. „Es war eine Freude, die Jugend zum Schulsaal, Flur oder Klassenraum eilen zu sehen, jeder ausgerüstet mit dem notwendigen ‚Pott‘ und dem mit jeder Speisung gesteigerten Verlangen nach der süßen Speise.“

Schulleiter, Lehrer und Elternbeiräte äußerten sich lobend über den Erfolg der Speisung: „Auf Aussehen, Appetit und Gewichtszunahme hat die Speisung durchweg günstig eingewirkt, zum größten Teil überraschend, besonders bei den Jüngeren. Gewichtszunahmen von 2-7 Pfund sind das Ergebnis, dazu gesteigerte Esslust und überraschend höhere Leistungsfähigkeit der Kinder zu Haus und in der Schule.“

Um den Spendern zu danken wurde u. a. folgendes Liedchen verfasst: „Ei wie lustig sieht es aus in dem ‚Städt‘schen Speisehaus‘; denn aus Nordamerika ist die süße Spende da. Alle Kinder sind froh, täglich gibt es Kakao. Und der aller dünnste Bengel wird nun ein Posaunenengel. Wenn die Kinderaugen strahlen, rot sich ihre Bäckchen malen, sei den Spendern heißer Dank, für den süßen Labetrank!

Die Kosten für die Zubereitung des Milchkakaos sowie das Backen der Brötchen und die Kosten für den Transport und die Leistungen der zahlreichen unbezahlten Hilfskräfte in Höhe von ca. 9.000 Mark übernahm restlos die Stadt.

An die Milchkakao-Speisung schloss sich fast nahtlos die sogenannte Quäkerspeisung an, die so genannt wurde, weil sie fast ausschließlich von Quäkern, die mit der amerikanischen Kinderhilfsmission zusammenarbeiteten, geleistet wurde. Die Quäker sind eine religiöse Gemeinschaft mit christlichen Wurzeln, die für Gleichheit, Gerechtigkeit, Empathie und Toleranz in Gewissens- und Glaubensfragen eintritt.

Nach einer erneuten Bedürftigkeitsuntersuchung war geplant, zunächst die Schulkinder vom 6.-14. Lebensjahr, später auch Kinder unter sechs Jahren und werdende und stillende Mütter sowie Jugendliche über 14 Jahren zur Speisung zuzulassen.

Um die Bedürftigkeit zu ermitteln, mussten alle betreffenden Personen gewogen und ihre Größe gemessen werden. Daraus wurde eine Kennziffer berechnet, der sogenannte Rohrer-Index, der sich aus dem Gewicht geteilt durch die dritte Potenz der Größe ergab. Lag die Ziffer mindestens 15 % unter einem festgelegten Normalwert, sollte eine Speisung erfolgen, ansonsten nicht. Allerdings fand anschließend eine ärztliche Untersuchung statt, bei der abweichend von dem Indexwert eine Bedürftigkeit festgestellt werden konnte. Die Verwendung der Kennziffer als Entscheidungskriterium war unter Fachleuten sehr umstritten und deshalb wurden ab August 1921 zwar nicht die Körpermessungen, wohl aber deren Umrechnung in Indexziffern aufgegeben.

An den Schulen wurden von den Lehrerinnen und Lehrern die Werte der Schülerrinnen und Schüler erfasst und die Berechnung der Indexziffer vorgenommen. Für alle anderen Anwärter gab es verschiedene Anlaufstellen. Kinder von 3-6 Jahren konnten im Kindergarten zur Untersuchung angemeldet werden, wo später auch die Untersuchung stattfand. Für schulentlassene Jugendliche gab es die Möglichkeit, sich im Salztorhäuschen registrieren zu lassen. Ihre Untersuchung fand in der Mittelschule statt. Werdende und stillende Mütter waren aufgerufen, sich auf der Mutter-Beratungsstelle in der Schönburger Straße zu melden.

Am 8. Juni 1921 war es dann soweit, die Quäkerspeisung begann. Das städtische Speisehaus bot wieder das bekannte Bild der Milchkakaospeisung. Gegen 9 Uhr fuhren die Hausmeister der Schulen mit Thermosgefäßen und Kannen vor, um die leckere Speise an die Schulen zu schaffen. „Der Auftakt war süß-milchig. Dickgekochter Milchkakao mit süßen und geschmalzten Brötchen war die erste Mahlzeit. Die vom Arzt ausgewählten Schüler und Schülerinnen waren um 10 Uhr im Speiseraum ihrer Schule und löffelten mit Behagen die Kakaospeise aus ihrem Schüsselchen. Alles süß, das ist der Grundsatz der Quäkerküche für Deutschland. Den jugendlichen Körper soll möglichst viel Zucker zugeführt werden. Das alberne Gerede, als würden Quäkerspeisen mit Saccharin gesüßt, ist unsinnig. Ebenso albern und unsinnig ist das Gerede, als wäre die Quäkerspeisung eine Bohnen- und Erbsenspeisung. Was gibt es denn diese Woche? Erster Tag: Milchkakao (extra dick gekocht) mit süßen Brötchen. Zweiter Tag: Milchreis mit Zucker und Zimt. Dritter Tag: Trinkmilch mit Streuselkuchen. Vierter Tag: Rhabarberreis mit Brötchen.

Die Kinder unter 6 Jahren, die den Kindergarten bzw. die Kinderbewahranstalt besuchten, erhielten das Essen in der jeweiligen Einrichtung, alle anderen, sowie die Jugendlichen, die nicht eine höhere Schule besuchten und die werdenden und stillenden Mütter vormittags 10 Uhr im städtischen Speisehaus. Um den Andrang dort zu regulieren, wurden später nach einem Nummernsystem zeitlich gestaffelte Speisezeiten eingeführt.

Zwei wichtige Regeln, auf die immer wieder hingewiesen wurde, waren von allen Beteiligten zu beachten.

Regel 1: Jeder muss selber essen! „Die Mütter, die an der Quäkerspeisung teilnehmen, werden darauf aufmerksam gemacht, dass die ihnen verabfolgte Speise auch von Ihnen gegessen werden muss. Es ist ganz unstatthaft, mitgebrachten Kindern davon zu essen zu geben. Ebenso unstatthaft ist es, Speisen mit nach Hause zu nehmen. Dasselbe gilt für die Kinder in den Schulen. Auch sie müssen ihre Speise und ihr Zuckerbrot selber essen. Die Leiter der Speisestellen sollten streng darauf achten, dass die Brötchen im Speiseraum verzehrt und nicht mit nach Hause genommen werden. Das gute Herz der Kleinen, dass der Mutter oder der Schwester gern das köstliche süße Brötchen zuwenden möchte, darf leider nicht entscheiden.

Regel 2: Ein mehrmaliges Fernbleiben von der Speisung hat den Verlust der Berechtigung an der Teilnahme zur Folge!

Ab August 1921 wurde die Quäkerspeisung zunächst eingestellt, weil man eine entsprechende längere Speisezeit im Herbst und Winter für wirksamer hielt, als im Sommer. Ab November ging die Speisung dann weiter bis Ende Juli 1922.

Die Unkosten für die Quäkerspeisung, die durch die Herstellung der Speisen, die Entlohnung der notwendigen Hilfskräfte, den Transport der Speisen zu den Schulen usw. entstanden, wurden im Juni 1921 auf etwa 10.000 Mark veranschlagt. Per Beschluss der Stadtverordnetenversammlung wurden sie von der Stadt übernommen. Im Dezember musste man allerdings feststellen, dass die Mittel aufgebraucht waren. Der Magistrat der Stadt beschloss, in Zukunft von den Schülern der Volksschulen 10 Pfg., von den Schülern der Mittelschule 20 Pfg. und von den Schülern der höheren Lehranstalten 30 Pfg. für jede Mahlzeit zu erheben und zur Deckung des dann noch verbleibenden Ausgaberestes einen Betrag bis zu 10.000 Mark aus Rechnungsüberschüssen der Vorjahre zu bewilligen. Dem folgte die Stadtverordnetenversammlung nicht. In Anbetracht des Wertes der überwiesenen Nahrungsmittel in Höhe von 253.000 Mark lehnten die Abgeordneten den Eigenanteil der Bedürftigen ab und genehmigten die erforderlichen Mittel aus der Stadtkasse. Im Mai 1922 waren die Mittel abermals verbraucht. Knapp 19.000 Mark wurden nachbewilligt. Der Vorschlag des Magistrats, einen Elternbeitrag von wöchentlich 2 Mark zu erheben, wurde von den Stadtverordneten abgeschmettert.

Abschließend sei noch bemerkt, dass die Quäker auch nach dem zweiten Weltkrieg wieder einen Beitrag zur Linderung des Hungers in Deutschland leisteten, allerdings überwiegend im westlichen Teil des Landes.

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