Über die langwierige Einführung der Mitteleuropäischen Zeit in Naumburg
20. April 2022
Nun haben wir sie seit vier Wochen wieder, die von vielen ungeliebte Sommerzeit. Dabei sollten wir uns eigentlich langsam mal daran gewöhnt haben, denn seit 1980 begleitet sie uns alljährlich.
Doch die Mehrheit der Deutschen lehnt die Sommerzeit nach wie vor ab. Für die Befürworter der Sommerzeit stellt sie ein Stück mehr Lebensqualität dar, weil es abends länger hell bleibt. So verschieden sind die Ansichten. Das ursprüngliche Ziel der Zeitumstellung, das Tageslicht besser zu nutzen und so Energie einzusparen, wird wohl nicht erreicht, weil zwar elektrisches Licht gespart, dafür in den kühlen Monaten morgens mehr geheizt wird.
Die Sommerzeit ist keine Erfindung der Neuzeit, die gab es auch schon früher. Während des ersten Weltkrieges von 1916 bis 1918 wurden im Deutschen Reich erstmals die Uhren auf Sommerzeit umgestellt und auch im zweiten Weltkrieg wurde sie von 1940 bis 1945 eingeführt. Nach dem Krieg galt in Ostdeutschland sogar zeitweise die Moskauer Zeit.
Wer heute über die Sommerzeit stöhnt, ahnt gar nicht, wie gut es uns heute geht. Denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gingen die Uhren in jedem größeren Ort des Deutschen Reiches anders. Mittag war immer dann, wenn die Sonne am höchsten stand und entsprechend waren die Kirchturmuhren eingestellt. Schlugen die Glocken zum Beispiel in Berlin mittags 12-mal, war es in Köln erst 11:35 Uhr. Selbst zwischen Halle und Erfurt betrug die Zeitdifferenz noch 4 Minuten.
Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts störte das allerdings keinen Menschen, denn ohne Telefon, Internet und schnelle Verkehrsverbindungen waren diese Zeitdifferenzen unwichtig.
Das änderte sich erst, als die ersten Eisenbahnlinien entstanden, die mehrere Kleinstaaten miteinander verbanden. Pro Stunde Fahrt mit einem Schnellzug von Osten nach Westen ergaben sich vier Minuten Zeitunterschied. Jede längere Eisenbahnfahrt wurde damit zu einer kleinen Zeitreise. Die unterschiedlichen Zeiten sorgten insbesondere an Grenzbahnhöfen für Chaos. Am Bodensee mit seinen damals fünf Anliegerstaaten zum Beispiel galten in einem einzigen Bahnhof fünf unterschiedliche Zeiten. Das verwirrte nicht nur die Fahrgäste der Bahn, sondern auch das Zugpersonal und führte im August 1853 in den USA, wo analoge Verhältnisse herrschten, zu einem Zusammenstoß zweier Züge, bei dem 13 Menschen starben. Der Lokführer hatte sich an der falschen Zeit orientiert.
Die Lösung war zunächst die Einführung von Einheitszeiten für die Eisenbahn, die entlang der Bahnlinien galten und sich meist an der jeweiligen Zeit in den Hauptstädten orientierten. So richtete sich in Preußen seit 1848 der gesamte Eisenbahnverkehr nach der Berliner Zeit. Im täglichen Leben orientierte man sich aber weiterhin an der Ortszeit. Auf Bahnhöfen gab es deshalb häufig mehrere Uhren, die einen zeigten die Ortszeit, die anderen die Bahnzeit an. Noch bis 1891 existierten im deutschen Reich fünf verschiedene Eisenbahnzeiten.
Um das Zeitchaos zu beenden, wurde 1884 auf der Internationalen Meridiankonferenz in Washington empfohlen, ein System aus 24 weltweiten Zeitzonen einzurichten. Während einige europäische Länder, wie Ungarn, Mazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegovina, Slowenien und die Slowakei die Empfehlung bald umsetzten, stritten sich in den folgenden Jahren Politiker und Fachleute in Deutschland heftig über die Frage, ob man sich dem System anschließen solle. Erst am 12. März 1893 war es dann soweit: der deutsche Kaiser setzte seine Unterschrift unter das Reichsgesetzblatt Nr. 7, das die „Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung“ regelte. Darin wurde festgelegt: „Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich“. Bereits am 1. April des gleichen Jahres trat das Gesetz in Kraft, wodurch die Mitteleuropäische Zeit jetzt in ganz Deutschland galt.
In den letzten Märztagen 1893 wurde im Naumburger Kreisblatt wiederholt auf die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit hingewiesen. Der damalige Königliche Landrat v. Freilitzsch ließ verkünden: „Die Gemeindebehörden des Kreises weise ich daher an, in der Nacht vom 31. März zum 1. April die in ihren Gemeinden befindlichen öffentlichen Uhren nach der neuen Zeit einzustellen. Sämtliche Ortspolizei- und Ortsbehörden haben sich vom 1. April d. J. ab bei der Ordnung ihres Dienstes und bei allen Zeitangaben ausschließlich der mitteleuropäischen Zeit zu bedienen.“
Auch vom Magistrat der Stadt verlautete: „Sämtliche öffentliche Uhren werden in der Nacht vom 31. März zum 1. April d. J. zu dem Zeitpunkte auf 12 Uhr gestellt, zu welchem nach mitteleuropäischer Zeit der 1. April beginnt. Die Differenz beträgt für unsere Stadt 12 Minuten, so daß der 1. April gegenüber der jetzigen Zeitrechnung 12 Minuten vor 12 beginnt. Durch diese Maßregel wird eine übereinstimmende Zeitrechnung auch mit den Bahnuhren erzielt bzw. wiederhergestellt.“
Die zuvor gültigen Ortszeiten in unserer Region werden durch folgenden Beitrag verdeutlicht: „Wie schon mitgeteilt, reicht für Naumburg der 31. März d. J. nur bis um 11 Uhr 47 Minuten 12 Sekunden nachts, und es beginnt dann sofort der 1. April. In ähnlicher Weise wie man hier den Uhrzeiger vorrücken muss, muss dies auch in Camburg, Freyburg, Kösen, Laucha, Mücheln, Schkölen um 11 Uhr 47 Minuten geschehen, dagegen in Hohenmölsen, Osterfeld, Stößen erst um 11 Uhr 48 Minuten, andererseits in Bibra, Eckardtsberga, Nebra, Wiehe schon um 11 Uhr 46 Minuten und in Artern, Kölleda und Heldrungen um 11 Uhr 45 Minuten.“
Wie die Menschen im täglichen Leben mit der „neuen“ Zeit umgegangen sind, ist nicht bekannt. Allerdings lassen einige Veröffentlichungen gewisse Schlussfolgerungen zu.
So war am 13. Juni 1907, also 14 Jahre nach der verbindlichen Einführung der Mitteleuropäischen Zeit im Kreisblatt zu lesen: „Seit heute sind in sämtlichen Wagen der elektrischen Straßenbahn Uhren angebracht, die die mitteleuropäische Zeit (also übereinstimmend mit der Bahnuhr) angeben. Die Straßenbahn fährt, wie früher schon, in Übereinstimmung mit der Bahnzeit.“
Ein reichliches Jahr später gab es folgende Information: „Viel bemerkt wurde gestern Abend zwischen ½8 und ¾10 Uhr ein beträchtlicher Unterschied zwischen der Mitteleuropäischen Zeit und der Zeit, der sonst auf behördliche Anordnung immer einige Minuten vorauseilenden Uhr auf dem Wenzelskirchturm.“ Wurde hier tatsächlich auf behördliche Anordnung gegen das Reichsgesetz von 1893 verstoßen?
Am 16. Dezember 1930, also mehr als 37 Jahre nach der Einführung der Mitteleuropäischen Zeit, stand im Naumburger Tageblatt unter der Überschrift „Eine Uhrzeit-Stichprobe, - Der Zeigertanz der Naumburger Uhren.“: „Auf die hiesigen Uhren, die an Kirchtürmen, an öffentlichen und privaten Gebäuden angebracht sind, kann man sich leider nicht im gewünschten Maße verlassen. Sie gehen in der Regel sehr verschieden. Den Beweis dafür erbrachte eine Prüfung der Uhrzeit. Danach zeigten die 22 hiesigen Uhren nicht weniger als 14 verschiedene Zeiten an. Nur zwei führten Mitteleuropäische Zeit, sieben Uhren die um eine Minute später liegende Bahnzeit und die übrigen Uhren hatten Unterschiede von 1-5 Minuten.“ Schließlich stellte der Schreiber dieser Zeilen die Frage, „warum haben wir heutzutage in Naumburg überhaupt noch verschiedene Uhrzeiten? Im vorigen Jahrhundert mag ja bei der Abgelegenheit des Hauptbahnhofes zur Stadt eine Vorverlegung der Stadtzeit mitunter ganz angebracht gewesen sein. Einmal war es eine Vorsichtsmaßregel, die bei etwaigen Störungen eine geringe Zeitzugabe gestattete, zum anderen aber bedeutete sie eine freundliche Geste gegenüber den Bahnreisenden. Im heutigen Zeitalter der Elektrizität und des Autos ist solche Rücksichtnahme jedoch nicht mehr am Platze.“ Somit ist die Frage, warum die Uhr auf dem Wenzelsturm immer einige Minuten vorauseilte, wohl beantwortet. Man kam damit einer alten Tradition nach, die allen denen, die mit der Bahn weg wollten, das rechtzeitige Fortkommen erleichtern sollte.
Knapp zwei weitere Jahre später, am 12. Oktober 1932, konnte im Naumburger Tageblatt verkündet werden: „Endlich Einheitszeit in Naumburg! Seit vorgestern wurden die Uhren, die die Stadtzeit anzeigten (Wenzelsturm und Rathaus), der mitteleuropäischen Zeit entsprechend 2 bis 3 Minuten zurückgestellt, so dass wir nun in Naumburg endlich die langersehnte Einheitszeit haben. Die Tradition, die Uhren vorgehen zu lassen, passte schon seit langem nicht mehr in unsere heutige hochentwickelte Zeit der Technik, in der wir durch das Radio so oftmals hören mussten, dass wir Naumburger ´der Zeit weit voraus´ seien. Im allgemeinen Leben könnte das zwar als Kompliment gelten, in diesem Falle bedeutete unser Vorgehen aber leider eine gewisse Rückständigkeit.“
Und wie sieht es heute mit den öffentlichen Uhren in unserer Stadt aus? 22 Uhren, wie noch im Jahr 1930 gezählt, kann man heute nicht mehr finden. Auch sind solche Uhren im täglichen Leben eher unwichtig geworden, jüngere Menschen zücken meistens ihr Smartphone, wenn sie die Uhrzeit wissen wollen, die Älteren schauen auf die Armbanduhr. Trotzdem haben wir hier noch einige sehr schöne Exemplare. Doch wie genau gehen diese Uhren? Eine „Fotopirsch“ vor einigen Wochen durch die Stadt brachte folgendes Ergebnis: zum Zeitpunkt der Aufnahme gingen die Rathausuhr und die wenig ansehnliche Uhr der Marien-Magdalenenkirche am genauesten (+1 bzw. -1 Minute). Danach folgten die Turmuhr der Wenzelskirche und die Uhr vom Goldschmiedemeisters Swiekatowski in der Salzstraße (2 Minuten), sowie die Domuhr (-3 Minuten). Die Uhren an der Humboldtschule und in der Herrenstraße zeigen schon längere Zeit nur noch „2-mal am Tag die richtige“ Zeit. Es wäre schön, wenn die letztgenannten repariert würden, sonst könnten Besucher unserer Stadt auf den Gedanken kommen, dass hier die Zeit stehen geblieben ist.