100 Jahre alt und geht noch immer, wenn auch manchmal langsamer oder schneller
19. Januar 2023
396-mal am Tag werden die Uhrglocken auf dem Wenzelsturm angeschlagen. Übernachtungsgäste in der Naumburger Innenstadt fühlen sich dadurch eher gestört, aber die Bewohner und Geschäftsleute vermissen etwas, sollte es nicht zu hören sein.
Dem Autor dieser Zeilen geht es ebenso, doch als im Jahre 2001 dieses Schlagwerk wieder in Betrieb ging, raubte es ihm zunächst oft den Nachtschlaf. Als er den damaligen Oberbürgermeister Curt Becker daraufhin ansprach und den Vorschlag machte, das Anschlagen in der Nacht abzustellen, wie es in Teilen Deutschlands durchaus üblich ist, kam als Antwort nur, das bleibt, weil es schon immer so war! Doch das ist nicht ganz richtig.
Werfen wir mal einen Blick zurück in die Geschichte der Uhren auf dem Wenzelsturm. Die erste urkundliche Erwähnung einer Turmuhr stammt von Sixtus Braun aus dem Jahre 1397: „Den Seiger [Turmuhr] auf dem Wenzelsturm hat der Kirchner [Kirchendiener, Küster] stellen müssen.“ Das wird wohl, wie zu dieser Zeit üblich, eine Schlaguhr gewesen sein, die noch kein Zifferblatt mit Zeigern hatte, sondern durch stündlichen Anschlag einer Glocke die Uhrzeit verkündete.
Aus späteren Jahren wird immer mal wieder über neue „Seiger“ berichtet, so z. B. 1490 „Der Kirchturm ist dieses Jahres erbauet, und darauf ein klein Türmlein, darinnen der Seiger hänget“, 1518 „Hans Abenbroth zu Erfurt hat die Zimbeln zu dem neuen Seiger gegossen, hat 13 Zentner weniger 3 Pfund, von jedem Zentner 26 gr. zu gießen.“, 1519 „Ein neuer Seiger ist einem Meister von Fulda verdingt und ihm dafür 14 Sch. gegeben, auch dieses Jahr auf den Turm gebracht worden.“ und 1596 „Donnerstag, den 9. Dezember ist das Seigerglöcklein in Erfurt gegossen worden, hält 32 Zentner, und hat der Rat dazu alte Büchsen gegeben und neues Zinn gekauft.“ Vermutlich handelt es sich dabei immer um die zur vollen Stunde angeschlagene Glocke.
Erst 1597 fällt wieder der Begriff Uhrwerk: „Den 18. Februar ist Andreas Hoffmann das neue Uhrwerk beneben dem Viertelstundenseiger, sowohl vier Seiger auf jedem Ort des Turms, samt einer Kugel zum Mondschein verdingt um 80 Taler an Geld und für das alte Werk.“ Auch ist überliefert, dass es bei der Montage der Schlagglocken einen Zwischenfall gab: „Den 17. Juni ist die große Seigerglocke, die man zieht, und die Viertelseigerglöcklein aufgezogen worden, zu dem Orte hinein, da sonst der Aufzug ist, und als die kleine Glocke bald hinauf, ist das Seil, damit die Glocke angebunden gewesen, aufgegangen, und die Glocke herunter gefallen, weil sie aber anfänglich auf das Holz, darauf die große Glocke zuvor geruht, gefallen, hat sie gottlob keinen Schaden genommen, ist aber sehr tief, und die Hälfte in die Erde geschlagen.“
Spätestens seit dem genannten Jahr 1597 gab es also eine Turmuhr mit vier Zifferblättern und Zeigern auf jeder Turmseite und eine Monduhr, wie wir sie heute noch auf der Marktseite des Turms sehen können.
Der Meister Andreas Hoffmann hatte bei Vertragsabschluss versprochen, das Werk so gut und beständig zu fertigen, dass „ein Ehrbarer Rat damit Ehre einlegen und er selbst sich bei der Stadt einen guten Namen und Gedächtnis machen“. Dieses Versprechen hat er gehalten, denn die Uhr tat offensichtlich Jahrhunderte lang ihren Dienst.
Trotzdem waren natürlich hin und wieder Reparaturen erforderlich. In der Chronik des Wenzelsturms wird berichtet, dass 1628 der Uhrmacher-Meister Christian Horn ein Gedinge (Vertrag) über die Reparatur der Turmuhr erhielt, die 50 Thaler kostete. 1670 soll dann „Andreas Zschiebert von Halle für 57 fl 3 gr. und Nebenkosten von 34 fl“ eine Uhr gefertigt haben, für die er 10 Jahre Garantie gab. Vermutlich handelte es sich auch dabei um eine Reparatur. Letztmalig wird in der Turmchronik eine Reparatur der Turmuhr im Jahr 1724 durch Meister Hänel aus Zeitz erwähnt. Aus den im Stadtarchiv befindlichen Dokumenten über diese Reparatur geht hervor, dass in diesem Zusammenhang auch Teile der Monduhr erneuert wurden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufen sich dann die Meldungen über Probleme mit der Uhr. So wird am 14.11.1916 berichtet, dass die Turmuhr „seit gestern früh ein viertel 9 Uhr infolge von Schäden am Geh- und Schlagwerk still steht. Schon während der letzten acht Tage war die wohl nun altersschwache Uhr nur unter Aufwendung vieler Mühe zu regelmäßigem Gang zu bewegen. Nachdem sie jetzt gänzlich versagt hat, ist eine gründliche Wiederinstandsetzung vonnöten.“ Da der mit der Unterhaltung der Stadtturmuhr betraute Uhrmacher zum Militär eingezogen war dauerte es vier Wochen, bis man eine Lösung für das Problem gefunden hatte. Schon ein halbes Jahr später stand die Uhr wieder, „weil sie durch einen Pendelbruch aus dem Gange gekommen“ war.
Ende 1919 geschah es dann, dass anhaltendes Anschlagen der Glocke zu hören war. „Die über 400 Jahre alte Turmuhr, die schon seit langer Zeit durch den Uhrmacher künstlich erhalten worden ist, hat plötzlich versagt bzw. ist dabei so lebhaft geworden, dass sie ihr Leid laut durch Glockenanschlag gemeldet hat, bis der Turmwart hochgeklettert und das Schlagwerk zur Ruhe gebracht hat.“
Nur vier Wochen später wurde gemeldet, dass von „den vier Zifferblättern der Stadtturmuhr, die nach jeder Himmelsrichtung angebracht sind, nur das nach Norden, nach dem Markt zu, mit seinem Zeigerwerk im Gange ist. Die anderen sind eingerostet. Bei diesem aber zeigt, gerade umgekehrt, der große Zeiger die Stunden an und der kleine die Minuten.“
Neue Probleme folgten in immer kürzerer Abständen, weshalb der Magistrat der Stadt eine Überprüfung der Uhr durch einen Fachmann veranlasste. Diese ergab, dass „das ganz aus Eisen bestehende schon sehr alte Uhrwerk außerordentlich stark verschlissen ist. Viele Teile des Werkes sind gänzlich verbraucht. Der Gang des Uhrwerks ist zur Zeit nur noch dadurch möglich, dass die Schmiere, die sich im Laufe der langen Jahre durch Staub und Öl gebildet hat, die einzelnen Teile zusammen hält. Auch die Zeigerwerke, Zeiger und Zifferblätter sind beschädigt und teilweise außer Betrieb. Die Hammerwerke bedürfen ebenfalls dringend der Erneuerung. Das Nebenwerk, dass den Stand des Mondes anzeigt, ist auch nicht mehr betriebsfähig. Eine gründliche Instandsetzung oder auch Erneuerung des Uhrwerkes ist deshalb nicht mehr länger aufzuschieben.“ Was also tun?
Eine Diskussion in der Stadtverordnetenversammlung im Sommer 1922 endete mit dem Beschluss, „ein gutes neues Werk moderner Konstruktion mit Bronzerädern und achttägigem Aufzug (das alte musste täglich aufgezogen werden) zu beschaffen.“
Die renommierte Turmuhrenfabrik J. F. Weule, in Bockenen am Harz seit 1836 ansässig, erhielt den Zuschlag für ihr Angebot zum Bau eines Uhrwerks nebst zwei Hammerwerken einschließlich Verpackung, Lieferung und Montage für den Preis von 80.000 Mark. Als Liefertermin war der 4. Oktober 1922 vereinbart, tatsächlich erfolgte der Versand erst am 12. Dezember. Begründet wurde die Verzögerung mit einem am 9. Oktober (!) in ihrem Betriebe ausgebrochenen Streik. Auf der Basis des tatsächlichen Liefertermins legte die Firma Weule dann ihre Rechnung, wodurch sich eine sehr erhebliche Erhöhung des Gesamtpreises auf 270.606 Mark ergab, schließlich befand man sich in Zeiten einer galoppierenden Inflation.
Zu den finanziellen Problemen kamen bei der Montage noch technische. Es war nicht möglich, dass neue Uhrwerk an derselben Stelle zu montieren, an der das alte Uhrwerk gestanden hatte. Während die alte Uhr täglich aufgezogen werden musste, hatte das neue Werk eine Gehzeit von einer Woche, was erheblich längere Seile, an denen die Gewichte hingen, erforderte. Das war aber nur möglich, indem das neue Uhrwerk an einer bedeutend tiefer gelegenen Stelle im Turm aufgestellt wurde. Dies machte mehrere Deckendurchbrüche und die Auswechslung mehrerer Balkenlagen notwendig. Auch musste der Zwischenboden, auf dem das neue Uhrwerk stehen sollte, durch Bohlen verstärkt werden. Außerdem entschied man sich zur Fernhaltung von Staub um das neue Uhrwerk einen Bretterverschlag zu errichten. Alle diese Vorkehrungen ließen sich nicht vorher absehen und konnten erst nach Eintreffen des Uhrmonteurs getroffen werden. Das trieb die Kosten natürlich weiter in die Höhe.
Die Stadt weigerte sich allerdings, die Mehrkosten für die Herstellung und Lieferung des Uhrwerks zu tragen und bewilligte nur die Mehrkosten für die Montage.
Am 11. Januar 1923 war dann im Naumburger Tageblatt zu lesen: „Sie schlägt wieder! Die neue Turmuhr des Stadtturms ist in den letzten Tagen auf ihren Gang eingestellt worden. Seit gestern Abend ertönt ihr Schlag nun wieder regelmäßig. Das Werk ist neu, aber die Glocken sind die alten.“
Nach dem Uhrwerk wurden im Spätherbst 1925 auch die Zifferblätter erneuert.
Das Anschlagen der Uhrglocken auf dem Turm endete 1942, als diese beschlagnahmt und abtransportiert wurden. Womit wir wieder bei Curt Becker wären. Der 1936 hier Geborene kann die Glocken nur in seinen ersten sechs Lebensjahren vernommen haben.
Infolge eines Sturmes im März 1949 stürzte die Monduhr herab. Darüber, dass dabei die Bombenangriffe im April 1945 auf Naumburg, bei denen auch die Wenzelskirche schwer beschädigt wurde, eine Rolle gespielt haben, kann nur spekuliert werden. In der Uhr fand man eine Urkunde, die über eine Reparatur im Jahr 1806 Auskunft gab.
Im Zusammenhang mit den Sanierungsarbeiten am Naumburger Wenzelsturm wurde im Jahr 2000 auch die Turmuhr einschließlich der Monduhr restauriert. Ausgeführt wurden die Arbeiten von der Fa. Glocken & Turmuhren Christian Beck. Ein Jahr später konnten dann auch die neuen Viertelstunden- und die Stundenglocke, von der Kunst- und Glockengießerei Lauchhammer hergestellt, in Betrieb gehen.
Steigt man heute auf den Wenzelsturm, kann man leider nicht viel von den Einzelteilen der Uhr sehen. Nur zu seltenen Anlässen ist ein Blick auf die an Stahlseilen hängenden Gewichte möglich, die die Uhr antreiben und elektrisch aufgezogen werden. Unter den Gewichten stehen große Sandkisten, die für den unwahrscheinlichen Fall, dass so ein Gewicht abstürzt, größeren Schaden verhindern sollen. In ca. 22 Metern Höhe kann man hinter einer Glastür das nun 100-jährige Uhrwerk erkennen, mit seinen zwei Gehwerken rechts und links für das Anschlagen der Glocken und dem Zeigerwerk in der Mitte. Von letzterem aus werden über eine Stange und ein Verteilersystem auf dem etwa 20 Metern höher gelegenem Zeigerboden die außen an allen vier Seiten des Turms zu sehenden Uhrzeiger angetrieben. Die Stundenzeiger sind jeweils 1,1 m lang und 0,5 m breit, die Minutenzeiger 1,5 m und 0,3 m. In der Turmlaterne sieht man dann die erwähnten Uhrglocken mit den beiden Hammerwerken.
Hoffen wir, dass das Uhrwerk noch lange seinen Dienst tut. Gangungenauigkeiten, wie sie immer wieder mal auftreten und zum Teil auch witterungsbedingt sind, werden leider häufig erst spät korrigiert.