Fahrräder, Radfahrer und Radwege in Naumburg - wie alles begann
22. Mai 2023
Man schrieb das Jahr 1817, als eine bahnbrechende Erfindung, die in kurzer Zeit ihren Siegeszug um die Welt antrat, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Nun, vorgestellt ist vielleicht nicht ganz richtig, jedenfalls begab sich am 12. Juni besagten Jahres ein Herr Karl Drais mit seiner „Laufmaschine“ auf den Weg von seinem Wohnhaus in Mannheim nach dem 14 km entfernten Schwetzingen. Bei der Laufmaschine handelte es sich um ein hölzernes Gefährt mit beweglichem Lenker, den heutigen Laufrädern der Kinder nicht unähnlich, aber bedeutend größer. Damit ist auch schon klar, wie das Vehikel bewegt wurde, nämlich durch Abstoßen mit den Füßen. Mit rund 15 Kilometern pro Stunde absolvierte Drais die Strecke und war damit schneller als eine Pferdekutsche. Seitdem behaupten die Baden-Württemberger „Wir haben es erfunden!“, das Fahrrad, dass man damals auch Draisine nannte. Was man in Sachsen-Anhalt, genauer in Braunsbedra, ganz anders sieht. Denn dort ist überliefert, dass um 1761 ein Herr Michael Kaßler ein Laufrad für den Eigenbedarf baute. Allerdings können das die Braunsbedraer nicht beweisen. Trotzdem steht im dortigen Rathaus ein Nachbau dieses Gefährts.
Pierre Michaux kam wohl um 1861 auf die Idee, an das Vorderrad einer Draisine Tretkurbeln anzubringen und präsentierte seine Michauline genannte Erfindung auf der Weltausstellung 1867 in Paris. In den folgenden Jahren wurde davon einige hundert Stück hergestellt.
Einige technische Verbesserungen an der Michauline ermöglichten alsbald den Bau von Hochrädern, von denen zwischen 1870 und 1892 ca. 200 000 Stück gebaut wurden. Durch das größere Vorderrad rückte der Radfahrer zwar in Augenhöhe mit den Reitern, musste dafür aber ein schwieriges Auf- und Absteigen und eine größere Unfallgefahr in Kauf nehmen.
Diese Nachteile führten um 1885 letztendlich zur Entwicklung der anfangs sogenannten Sicherheits-Niederräder, die wie unsere heutigen Fahrräder zwei gleich große Räder mit größerem Radstand als früher, Sitz zwischen den Rädern und ein über eine Kette angetriebenes Hinterrad haben.
Auch in Naumburg konnte man relativ frühzeitig solche neu entwickelten „Stahlrösser“ erwerben. So finden wir im Naumburger Kreisblatt im Frühjahr 1889 die Anzeige von L. Zausch, Lindenstraße 8 , dass er „Fahrräder der ersten deutschen und englischen Fabrikanten, vom höchsten Zweirad bis zum niedrigsten Kinderrad“ auf Lager hält. Auch versichert er, das „Reparaturen auch an nicht von mir bezogenen Rädern prompt ausgeführt werden.“
Schon zwei Jahre später bietet Zausch „Sicherheits-Zweiräder neuester Konstruktion, mit oder ohne Luftgummireifen, für Erwachsene und Kinder“ auf Teilzahlung und mit einjähriger Garantie an. 1893 tauchen dann erstmals Anzeigen eines weiteren Fahrradhändlers, Louis Jacobi, mit Sitz Holzmarkt 10, auf. Dem folgen 1895 J. H. Thieme und R. Schulze. Letzterer offerierte aus seiner in der Jägerstraße 12 befindlichen Fahrradfabrik „95er Modelle mit weiten Rohren und großen Zahnrädern zu Engros-Preisen.“
Schaut man sich z. B. eine Abbildung der von Zausch 1894 angebotenen Fahrräder an, so kann man kaum noch einen Unterschied zu heutigen Modellen erkennen. Aber bei den Preisen! 400 Reichsmark für ein Fahrrad entsprachen etwa dem Jahresverdienst eines Arbeiters.
Radfahren war gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein mühevolles und gefährliches Unterfangen. Mühevoll vor allem, weil die Qualität der Straßen und Wege nicht mit der heutigen vergleichbar war. Emil Kraatz, Naumburger Oberbürgermeister von 1889 bis 1913, beschrieb in seinem 1914 herausgegebenen Buch „Aus dem Leben eines Bürgermeisters — Erinnerungen, Erfahrungen und Betrachtungen“ u. a. den bei seinem Dienstantritt 1889 vorgefundenen Zustand der Verkehrswege. Dort heißt es „ … Nicht einmal alle Straßen der inneren Stadt waren befestigt. Die Wege außerhalb der Ringmauern erfreuten sich noch ihres Urzustandes. Von den Landstraßen waren nur die nach Kösen, Camburg, Halle und Weißenfels führenden Straßen chaussiert. … Das Pflaster der inneren Stadt — soweit solches überhaupt vorhanden — war wohl an die hundert Jahre alt und bestand aus faustgroßen Kieselsteinen, die man dem Flusse im Laufe der Zeit abgewonnen hatte.“ Ein reines Vergnügen war das Radfahren zu dieser Zeit also nicht.
Gefährlich war das Radfahren vor allem auch, weil die Radfahrer und die anderen „Verkehrsteilnehmer“, wie Pferdefuhrwerke, Fußgänger usw. erst lernen mussten, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Vorfahrtsregeln usw. waren unbekannt, was immer wieder Unfälle zur Folge hatte. Berichte vor allem über Kinder, die angefahren wurden, oder Zusammenstöße mit Fuhrwerken häuften sich. Auch stürzten Radfahrer öfters, weil sie mit unangemessener Geschwindigkeit bergab fuhren oder Kurven nicht bewältigten. Schließlich gab es auch solche oder ähnliche Übergriffe, wie dieser im Kreisblatt 1895 zu lesende: „Einem hiesigen Radfahrer wurde am Montagabend auf dem Steinwege von halbwüchsigen Burschen unter Gejohle der Weg versperrt; als er endlich soviel Platz gefunden zu haben glaubte, dass er eben vorbeifahren konnte, wurde ihm ein Stock ins Rad gesteckt; der Radfahrer rettete sich durch einen Sprung und setzte dem fliehenden Helden nach, um dessen Namen festzustellen.“
Als Konsequenz aus diesen gefährlichen und oftmals blutigen Zwischenfällen wurde am 21. Februar 1896 in Naumburg eine „Polizei-Verordnung, betreffend das Fahren mit Fahrrädern“ erlassen. Darin waren u. a. die Benutzung von Straßen, Fußwegen und Bürgersteigen geregelt. Es wurde festgelegt, dass auf der rechten Fahrbahnseite zu fahren ist und „Fuhrwerke, Reiter, Radfahrer, Viehtransporte und Fußgänger“ links zu überholen sind. Außerdem sollte „innerhalb von Ortschaften nicht schneller als mit der Geschwindigkeit eines mäßig schnell fahrenden Wagens“ gefahren werden. Auch zur Ausstattung der Fahrräder gab es Festlegungen: sie mussten mit einer wirksamen Bremsvorrichtung, einer helltönenden Klingel und bei Dunkelheit mit einer Laterne versehen sein. Eine weitere Regelung, dass jeder Radfahrer eine von der Polizeibehörde ausgestellte, für die Dauer des Kalenderjahres gültige Fahrkarte mitzuführen hat, wurde später wieder gestrichen.
Da Radfahren auch gelernt sein will, warb der schon erwähnte Fahrradhändler Zausch gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kreisblatt für seine „Naumburger Radfahr-Halle“ in der Salzstraße 32, als „größte und schönste Fahrschule der Stadt, Sommer und Winter fahrbar.“
Wie das in Deutschland so üblich war und ist bildeten sich auch Vereine für Radfahrer. In Naumburg geschah das im Jahr 1885. Bereits ein Jahr zuvor war in Leipzig der Deutsche Radfahrer-Bund gegründet worden, der sich 1919 mit anderen Radfahrer-Verbänden zum heute noch existierenden Bund Deutscher Radfahrer e. V. vereinigte.
Zum Kongress des Deutschen Radfahrer-Bundes 1885 in Nürnberg wurde auch ein Vertreter des hiesigen Vereins delegiert. Er fuhr die 262 km nach Nürnberg natürlich mit dem Fahrrad, einem „englischen Vollblut-Stahlross“. Nach 22 ½ stündiger Fahrzeit erreichte er sein Ziel, trotz einer 4 Stunden dauernden Zwangspause wegen einer notwendigen Reparatur seines Fahrrades. Nach dem 4-tägigen Kongress fuhr er trotz Wind und Regen in zwei Tagen bis Camburg zurück, von wo aus er wegen eingetretener Dunkelheit und schlechter Wege die Bahn benutzte. „Nach dieser wirklich großen Leistung hatte sich sein Körpergewicht nur um ein Pfund vermindert und er fühlte sich auch durchaus nicht angegriffen.“
Mit dem Aufkommen des Automobilverkehrs anfangs des 20. Jahrhunderts konkurrierte ein weiteres Verkehrsmittel mit den Radfahrern um den Platz auf den Straßen. Der Konkurrent war nicht nur schneller sondern auch „stärker“, was das Radfahren wiederum gefährlicher machte. Eine Lösung für die Entschärfung des Konflikts war die Einrichtung von gesonderten Wegen für Radfahrer. Im November 1908 berichtete das Kreisblatt, dass an der nördlichen Seite der Kösener Straße der breite Bürgersteig durch eine Platanenreihe in zwei Teile geteilt wurde. „Der ungepflasterte, nach innen zu gelegene Teil ist jetzt, wie die an einigen Laternen angebrachten Schilder andeuten, für die Radfahrer freigegeben worden; als Gegenstück zu dem Reitweg auf der Südseite. Das ist außerordentlich anzuerkennen und geradezu ein Akt sozialer Billigkeit. Denn das Radfahren ist heutzutage kein Luxus mehr; die Spazierfahrer sind in der Minderheit gegenüber denen, für die das Fahrrad eine berufliche Erleichterung bedeutet.“ Gleichzeitig wurden Forderungen laut, weitere Radfahrwege einzurichten. Das geschah auch in den Folgejahren in der Roßbacher Straße, auf dem früheren Reitweg an der Marienpromenade und 1926 an der Ostseite der Bürgergartenpromenade.
Auch eine technische Neuerung sollte das Radfahren sicherer machen. Ab 1. April 1929 mussten alle Fahrräder mit einem Rückstrahler, „der einfallende Lichstrahlen in gelb-roten Farben deutlich zurückwirft“, versehen werden.
Mittlerweile hatte sich das Fahrrad zum billigsten Verkehrsmittel entwickelt, wovon schon vor dem 1. Weltkrieg jährlich bis zu einer Million Stück in Deutschland produziert wurden. 1928 zählte man im Lande bis zu 12 Millionen Radfahrer. Es wurde eine Zentralstelle für Radfahrerwege in Berlin eingerichtet, die sich bemühte, überall Vereine zur Anlage und Unterhaltung von Radfahrwegen zu gründen. In Naumburg wurde dazu 1928 ein Arbeitsausschuss unter Vorsitz des Obergildenmeisters Körner gebildet, nach seinem Tod übernahm u. a. der Obermeister der Mechaniker-Innung Hugo Sieber die Leitung. Von deren Bemühungen zur Errichtung von Radwegen innerhalb Naumburgs zeugen dicke Akten im Naumburger Stadtarchiv.
Trotz des Widerstands eines Teils der Bürgerschaft, der befürchtete, dass es auf den Radfahrwegen zu „Straßenrennen“ und zur „Raserei“ kommen würde, baute die Stadt bis 1932 weitere Radwege in der Weißenfelser Straße und am Wenzelsring.
Am 20. Februar 1933 wurde dann im Hotel "Goldener Löwe" der Naumburger Verein für Radfahrerwege gegründet. Er konzentrierte seine Arbeit vorrangig auf die Schaffung von Radwegen an den Landstraßen außerhalb der Stadt, die besonders stark befahren wurden, wie nach Bad Kösen, Freyburg, zur Henne, nach Schönburg, Weißenfels und Jena. Diese Arbeiten sollten im Rahmen des Freiwilligen Arbeitsdienstes geleistet werden, um „einem Teil junger Arbeitsloser die Gelegenheit zu bieten, sich längere Zeit zu betätigen.“
Bis auf den Radweg von Naumburg über Roßbach nach Kleinjena gibt es bis heute keinen derartigen Radweg entlang der Straßen. Dafür sind alle die genannten Orte über gut ausgebaute Flussradwege zu erreichen.
Beim kürzlich durchgeführten Fahrradklima-Test des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs, der das Ergebnis einer nicht repräsentativen Umfrage ist, erhielt Naumburg nur die Note 4,19. Gründe dafür sind sicherlich die immer noch vorhandenen Defizite bei den innerstädtischen Radwegen. Zwar wurde der Abschnitt des Altstadtringes von Curt-Becker-Platz bis Salztor neu gebaut, aber insbesondere am Jakobsring, in der Poststraße und am Lindenring gibt es Verbesserungsbedarf. Auch solche uralten Forderungen, wie die schon 1932 im Tageblatt nachzulesende, bestehen weiterhin: „Ein Radfahrweg auf dem abschüssigen Teil der Hallischen Straße stellt auch eine Notwendigkeit dar, da der Fahrdamm wegen seines schlechten Pflasters [mittlerweile gut asphaltiert] kaum von Radfahrern befahren werden kann. Leider sind auch auf dem Radfahrweg Kanaldeckel und Querrinnen, so das der Weg einmal neu geebnet werden müsste.“