Ein allseits bekannter Naumburger wird fünfundsiebzig
16. Februar 2024
Fünfundsiebzigste Geburtstage werden im Allgemeinen groß gefeiert, ob das in diesem Falle auch so sein wird, bleibt abzuwarten. Auch ist es unsicher, wie man den Jubilar eigentlich ansprechen soll, sind doch für ihn mehrere Bezeichnungen im Umlauf.
Steinerner Mann, römischer Krieger sind gebräuchlich, außerdem wird er, wie Eberhard Kaufmann 1996 schrieb, „von unbelehrbaren Leuten als der Stadtheilige‚ ‚St. Wenzel‘ angesehen, was aber grober Unfug ist, den noch heute eine Tageszeitung hartnäckig verbreitet“. Schließlich vermuten einige Leute in ihm einen Roland, wie er auf vielen Marktplätzen steht. Um wen geht es hier eigentlich? Nun, die meisten Leser werden es bereits wissen, es geht um die Figur auf dem Naumburger Marktbrunnen.
Paul Mitzschke, Archivar und Historiker, beschrieb die Brunnenfigur 1918 im Naumburger Tageblatt so: „Es ist eine kraftvolle, doch schlanke Gestalt in den besten Lebensjahren mit entschlossenen vorwärts blickendem edlen Gesicht und einem gewaltigen Kinnbart, der, wie vom Sturmwind getroffen, zweigeteilt über die Schultern zurück flattert. Mit hocherhobenen rechten Arm hält der Krieger die auf den Boden gestemmte lange Lanze, während sich der linke Arm auf ein Schild mit dem Naumburger Stadtwappen stützt. Der Kopf ist durch einen weit nach hinten gerückten Helm geschützt, der Körper steckt in einer engen panzerartigen Gewandung.“ Wer sich den „Steinernen Mann“ einmal genau angesehen hat, wird feststellen, dass Mitzschkes Beschreibung genau auf die heute zu sehende Figur zutrifft, auch wenn es eine andere als 1918 ist. Unsere heutige Brunnenfigur wurde nämlich erst 1948-1949 geschaffen. Sie ist eine Kopie einer wesentlich älteren Statue, die bis ins Detail getreu nachgebildet wurde. Werfen wir einen Blick zurück.
Früher gab es auf dem Markt einen Teich, den der Naumburger Rat 1459 beseitigen ließ und wie Sixtus Braun, Chronist und früherer Oberbürgermeister schrieb, an seiner Stelle einen „steinernen Born“ errichtete. Dieser Born war der erste Röhrenbrunnen der Stadt. Das für den Brunnen erforderliche Wasser wurde mittels hölzerner Rohrleitungen aus einer Quelle dem Brunnen zugeführt. 1498 wurde der Steinsetzmeister Volkmar Sachse beauftragt, „eine steinerne Säule, daraus das Wasser liefe, mitten hinein“ in den Brunnen zu setzen. 1507 kam ein Brunnentrog hinzu. Da der Rat während der alljährlichen Messe eine Beschädigung des Brunnens befürchtete, bestellte er eine Wache für die Anlage und ließ sie schließlich 1523 mit Eisenstäben umwehren. Sixtus Braun beschreibt das so: „die eisernen Stäbe am steinernen Brunnen auf dem Markt sind gemacht worden“.
Unter der Jahreszahl 1535 notierte Sixtus Braun: „Der steinerne Brunnen auf dem Markte ist gebessert und dazu 6 steinerne Tafeln zu Seeberg [Thüringen]und 6 steinerne Docken [Säulen] abgeholt worden.“ Die „Besserung“ bestand darin, dass man unter Verwendung des genannten Materials dem Brunnen ein Sammelbecken für das Röhrwasser hinzufügte und dieses mit den Säulen umrandete. Aber bereits 1548 musste der ganze Brunnen wegen Verfalls abgebrochen und neu aufgerichtet werden: „Der vorige steinerne Born auf dem Markt ist etwas wandelbar geworden, dass der Rat ihn abbrechen und ganz neu verfertigen lassen, dazu denn 5 steinerne Tafeln zu Seeburg und 5 Docken bestellt, anhero mit großen Kosten fahren lassen“. Zwei Jahre später ersetzte man die eiserne Umzäunung durch ein Gitter und ließ es mit bunten Farben bemalen.
Nach den Aufzeichnungen von Sixtus Braun wurde der Brunnen schließlich 1579 mit einer Figur geschmückt: „Den 25. September wird der steinerne Mann in dem Born auf dem Markt gesetzt.“ Nach Einsichtnahme in die Ratskämmereirechnungen jenes Jahres, teilte Friedrich Hoppe, Chronist und ehemaliger Museumsleiter hier in Naumburg mit, dass nicht bloß das Standbild gesetzt, sondern der ganze Brunnen schon wieder neu erbaut worden war. Der Werkmeister, von dem wohl auch das Standbild herrührte, hieß Heinrich Hase, sein Gehilfe Gregor Teuchern, der „Bemaler“ des Brunnens Andreas Königsdörfer. Die Sandsteine wurden aus einem Steinbruch in Laucha geholt und kosteten 48 Groschen. Für die Malerarbeit wurden 24 Groschen bezahlt, an Gregor Teuchern für vierwöchige Mithilfe 48 Groschen, während der Meister Hase 9 Schock und 36 Groschen erhielt.
Ein besonderer Name für die steinerne Figur wird nach dem Zeugnis von Hoppe in den einschlägigen Kämmereirechnungen nicht erwähnt. Eine kürzlich durchgeführte Durchsicht der Unterlagen durch die Stadtarchivarin, Frau Jungnickel, endete mit demselben Ergebnis.
Auf der Grundlage welcher Unterlagen Johannes Bürger in seinen „Annales Numburgenses“ zu 1579 schreibt „am 25. Septemb. ist der Steinerne Man oder Römische Soldat auff dem Brun am Marckte gesetzt worden“ ist nicht bekannt. Da o. g. Mitzschke Johannes Bürgers Arbeit nicht kennen konnte, denn dessen Manuskript wurde erst 2014 gedruckt, taucht nach seiner Aussage die Benennung "Römer" für den „Steinernen Mann“ erst viel später in der gedruckten Literatur auf. Er nennt dafür zwei Quellen. Zum einen Wilhelm Bernhardi, Lehrer und Historiker, der in seiner „Chronik der Stadt Naumburg und ihres Stifterkreises“ 1838 schrieb: „Auf der Mittagsseite des Marktes steht der Marktbrunnen, der mit der Figur eines alten Römers geziert ist.“ Zum anderen Karl Bornhak, früher Lehrer an der hiesigen Bürgerknabenschule, der in seiner 1861 erschienenen Schrift „Naumburg, Stadt und Kreis“ bemerkte: „Auf der südöstlichen Seite steht ein großer Brunnen, auf dem ein römischer Ritter das Stadtwappen hält.“ Mitzsche resümiert schließlich: „Wenn man sich nicht mit der allgemeinen Bezeichnung ‚Steinerner Mann‘ zufrieden gibt, ist wohl der Name ‚römischer Ritter oder Krieger‘ als der zutreffendste zu betrachten. Zwar liefert die Figur kein getreues Bild eines altrömischen Soldaten mit seiner Bewaffnung, sondern nur eine altertümelnde Kriegergestalt in Phantasierüstung, aber die Künstler der Renaissancezeit haben sich ja bei Wiedergabe ihrer römischen Vorbilder große Freiheiten gestattet, und insbesondere römische Krieger sind von ihnen zumeist in ähnlicher Weise wie die Naumburger Brunnenfigur dargestellt worden.“
Eine neue Bezeichnung der Brunnenfigur brachte Karl Schöppe, ehemaliger Zeitungsredakteur und Heimatforscher in seiner Geschichte der Wenzelskirche 1894 ins Spiel, als er über den heiligen Wenzel schreibt: „Ein beglaubigtes Bild von Wenzels Persönlichkeit ist uns nicht überliefert, denn die Bilder Wenzels auf den Kirchenglocken, sowie im Stadtsiegel, wo er das städtische Wappenschild trägt, sind ebenso wenig treu, wie das Wenzel-Standbild rechts am westlichen Kircheneingange oder wie das 1579 auf dem Marktbrunnen errichtete.“ Interessant ist, dass in der 1930 gedruckten 2. Auflage dieser Kirchengeschichte die Aussage „oder wie das 1579 auf dem Marktbrunnen errichtete“ nicht mehr enthalten ist.
Sei es, wie es sei, die Bezeichnung „Wenzel“ hat sich, wie schon eingangs erwähnt, heutzutage durchgesetzt.
Wie erging es dem „Steinernen Mann“ im Laufe der Zeit weiter? Natürlich nagten der Zahn der Zeit und die Witterung an seinem Äußeren, so dass immer mal wieder Verschönerungs- und Ausbesserungsarbeiten erfolgten. Bekannt ist z. B., dass 1712 und 1752 die Statue neu bemalt und vergoldet wurde.
Doch die Brunnenfigur hatte auch zu leiden. 1883 finden wir in der Naumburger Kreiszeitung: „In verflossener Nacht ist durch ruchlose Hand die zur Verschönerung des Marktbrunnens aufgestellte Ritterfigur dadurch zerstört worden, dass die, die Lanze haltende Hand abgeschlagen wurde.“ Die Reparatur war nicht von Dauer, 1907 fand man die Hand wieder abgefallen am Boden liegen. Irgendwann war auch das oben erwähnte Gitter um den Brunnen verschwunden. 1922 brachte man ein neues an, 1925 folgten dann Blumenkästen, die im darauf folgenden Frühjahr erstmals bepflanzt wurden. Der Brunnen hatte übrigens bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts seine Bedeutung als Trinkwasserlieferant verloren, als man 1890 Wasserleitungen in der Stadt verlegte und 5 Jahre später ein Anschlusszwang beschlossen wurde.
Der „Steinerne Mann“ hat von seinem Platz aus im Laufe der Jahrhunderte auch eine Menge gesehen. Hoppe schrieb 1943: „Er sah einst die Scharen der Messebesucher aus aller Herren Länder. Er sah die Rotten der Bürgerschaft unter ihren Gassenmeistern auf dem Markte aufmarschieren, die Kaufleute beim festlichen Zuge mit grüner Fahne, die Schützen mit Armbrust und Büchse, die Richter und Schöppen, die über dem ‚armen Sünder‘ den Stab brachen. Die Söldner des 30jährigen Krieges zogen an ihm vorüber, und die Kürassiere und Dragoner Friedrichs des Großen tränkten ihre Pferde an dem Brunnentroge. Vom benachbarten Residenzhause schaute einst Preußens schöne Königin Luise und dann Napoleon auf ihn herab. Er kannte die schwere Zeit, wenn der schwarze Tod die Bürger in Schrecken versetzte oder die Brandfackel die gute Stadt verheerte. Er vernahm auch den Jubel von Naumburgs Jugend, wenn sie unter klingendem Spiel und Glockenklang heranzog, das Kirschfest zu feiern. Er schmückte sich festlich zu Naumburgs unvergesslicher 900-Jahr-Feier und erlebte noch den Anbruch der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihren gewaltigen Kundgebungen und Aufmärschen auf dem Marktplatz.“
Dann kam die Nacht vom 4. zum 5. November 1940. Heftige Herbststürme warfen den Steinernen Mann um, er stürzte in den Brunnen und zerbrach in über 20 Teile. An eine Wiederherstellung war nicht mehr zu denken. Man sammelte alle Bruchstücke ein und brachte sie in die Dombauhütte.
Noch während des Krieges wurde die Anfertigung einer Kopie der Figur geplant, kam aber nicht mehr zur Ausführung. Nach dem Krieg bekam zunächst die Fa. Kruschwitz in der Naumburger Poststraße den Auftrag, musste diesen aber nach dem Tod des Inhabers zurückgeben. Die Fa. Freyburger Kalksteinwerke Emil Rottig übernahm die Herstellung und deren Bildhauer Bruno Eckert konnte die Figur im Februar 1949 fertigstellen. Am 31. März erfolgte die Aufstellung und endlich, nach mehr als 8 Jahren, bot der alte Marktbrunnen wieder das altvertraute Bild. Nach der Eingabe eines Bürgers wurde der Brunnen dann im Spätsommer auch wieder mit Blumenkästen geschmückt.
In späteren Jahren waren der Brunnen und der „Steinerne Mann“ öfter ein heimliches Kletterobjekt Naumburger Kinder. Bei einer solchen Aktion wurde in den 1970er Jahren die Spitze der Lanze beschädigt. Schmiedemeister Hermann Kästner bekam von der Stadt den Auftrag, eine eiserne Lanzenspitze zu schmieden. Diese sollte dann mit Betonkleber befestigt werden. Eberhard Kaufmann schrieb später dazu, dass „Meister Kästner zum Gaudi der Vorbeigehenden auf einer Leiter im Brunnen stand und die Spitze festhielt, bis der Kleber getrocknet war.“
Nach der Wende wurden Teile der Brunnenfigur und die Lanzenspitze vergoldet. Doch bald drohte neues Unheil. Anfang Oktober 1997 verschwand die Lanzenspitze über Nacht zunächst spurlos. Eine Markthändlerin entdeckte das Fehlen als erste. Man rätselte, ob spielende Kinder, Souvenirjäger oder Rowdys am Werk gewesen waren. Schließlich fand ein Baggerfahrer, der in der Wenzelsstraße arbeitete, die Spitze zufällig in einem Sandhaufen. So konnte der „Steinerne Mann“, „Römischer Krieger“, Wenzel oder wie auch immer wir ihn nennen wollen, wieder komplettiert werden.
Ein „Roland“ wie manche Historiker meinen, scheint unser Mann jedenfalls nicht zu sein, denn er wurde eigens als Brunnenfigur hergestellt und war kein Zeichen alter Marktgerechtigkeit. Dafür hat er aber einen „Bruder“, der ihm sehr ähnlich sieht, wie der schon ober zitierte Paul Mitzschke meint. Diese, „Römer“ genannte Statue, steht seit 1591 auf einem Sockel auf dem Erfurter Fischmarkt vor dem Rathaus. Vielleicht fahren Sie mal hin und machen sich selbst ein Bild.