Die Anfänge des Flugzeugbaus in Naumburg
22. April 2024
Die Liste der tollkühnen Männer, die es wagten, sich mit selbst erbauten motorbetriebenen „Flugapparaten“ in die Lüfte zu erheben, ist lang. Beispielhaft sollen hier drei Pioniere auf diesem Gebiet genannt werden, damit wir die Ereignisse des Jahres 1912 in Naumburg und einige Fakten dazu besser einordnen können.
Die Brüder Orville und Wilbur Wright, Besitzer einer Fahrradwerkstatt, schafften es am 17. Dezember 1903 mit ihrem Motorflugzeug „Flyer I“ in ca. 12 Sekunden 37 m weit zu fliegen. Der deutsche Maschinenbauer Hans Grade stieg am 28. Oktober 1908 mit seinem selbst gebauten Dreidecker-Flugzeug in die Luft und kam damit in ca. 8 m Höhe 100 m weit. Der französische Ingenieur Louis Blériot schließlich überquerte am 25. Juli 1909 als erster Mensch mit seinem Flugzeug „Blériot XI“ den Ärmelkanal, wofür er 37 Minuten brauchte.
Die angeführten großartigen Leistungen begeisterten damals viele Menschen und schon 1912 ergriff auch die Naumburger das Fieber, als am 5. Mai das Tageblatt berichtete, dass ein „Ingenieur beabsichtigt, demnächst hier ein Unternehmen zu errichten, um sich mit der Herstellung von Flugzeugen und der Ausführung bezüglicher Entwürfe zu beschäftigen. Für die zur Erprobung erforderlichen Flugübungen ist ihm der Garnisionsexerzierplatz [oberhalb des Buchholzes] zur Verfügung gestellt worden.“
Nur eine Woche später landete in Naumburg unverhofft ein Flugzeug, worüber im Tageblatt folgendes zu lesen war: „Am Sonnabend gegen ¾ 8 Uhr hörte man in der Stadt das scharfe Sausen der Propeller und sah ziemlich hoch — es ist 500 Meter hoch gewesen — von Freyburg her einen Eindecker nahen. Über der Stadt stellte er ¾ 8 den Motor ab und ging im Gleitflug schräg nach Südwesten zu nieder. Sofort strömte viel Volks nach der vermutlichen Landungsstelle hinaus, zum Teil nach der Lepsiusstraße und den Weinbergen des Teufelsgrabens, aber die Landungsstelle war noch weiter hinaus, nämlich auf dem Felde hinter dem Gärtnerhause des großen städtischen Obstgartens. Dort waren die Flieger in sehr glatter Landung niedergegangen. Es war das Militärflugzeug A 6 (nach dem Modell der Etrich-Rumplerschen „Taube“), das ¾ 5 von Döberitz abgeflogen war. Führer des Flugzeugs war der Adjutant der Militärfliegerabteilung Leutnant Canter, als Beobachter war auf dem Vordersitze der Oberleutnant von Detten mitgeflogen. Die genussreiche Fahrt war über Bitterfeld und Halle nach Freyburg zugegangen, von da waren die Flieger hierher abgeschwenkt, um wegen der herannahenden Dunkelheit auf dem hiesigen Garnisonübungsplatz zu landen, für den sie das ausgedehnte saatgrüne Feld, einen vorzüglichen Landungsplatz, wohl halten konnten.“
Der Andrang der vielen Neugierigen war riesig. Eine Pfadfinder-Abteilung, die in der Nähe eine Samariterübung durchgeführt hatte, „eilte kurzentschlossen zum Landeplatz und hielt die in großer Menge herbeieilten Zuschauer vom Flugzeug zurück. Unter Leitung ihres Feldmeisters sicherten sie das Flugzeug mit eiligst beschafften Planen gegen etwaigen Regen und verankerten es sachgemäß, da man ein Anschwellen des Windes befürchtete.“ Gegen 10 Uhr rückte dann eine Wache vom hier stationierten Jägerbataillon an.
Als die beiden Offiziere, die in der „Holländer Mühle“ übernachtet hatten, am frühen Morgen des nächsten Tages nach Weimar weiterfliegen wollten, gab es einen Zwischenfall, der dies zunächst verhinderte. Beim Nachfüllen von Benzin lief der Tank über und Reste des außen anhaftenden Treibstoffs gerieten bei der Zündung des Motors in Brand. Die anwesende Wache des Jägerbataillons konnte den Brand zwar „durch Aufwerfen von Erde“ schnell löschen, aber nunmehr musste der Motor zur Reinigung vollständig auseinander genommen werden. Der Naumburger Mechaniker Karl Steingrüber, Besitzer einer Fahrrad- und Nähmaschinenhandlung, übernahm diese Arbeit und schaffte es, dass der Motor am Abend um 6 Uhr wieder tadellos lief. „Den ganzen Tag über waren Viele hinaus gepilgert, um das Flugzeug zu besichtigen, und anwesende Verkäufer von Nahrungsmitteln und Bier mögen gute Geschäfte gemacht haben.“ Nach 6 Uhr abends startete der Weiterflug trotz eines aufziehenden Gewitters. Allerdings konnte der Pilot nur allein starten, weil der Boden an der Landungsstelle für das Gewicht von zwei Personen zu weich war. „6:07 Uhr ließen die fünf Haltenden das Flugzeug los und nach etwa 50 m Anlauf hob es sich in die Luft, flog in großem Bogen von der Stadt nach Almrich und nach dem Buchholz zu. Von den Zuschauern mit Jubel begrüßt, grüßte der Flieger freundlich durch Mützen schwenken herab.“ Der zweite Offizier war mittlerweile mit dem Auto zum Exerzierplatz gefahren und stieg dort in das zwischengelandete Flugzeug ein. Damit endete das Flugabenteuer für die Naumburger an diesem Tag. Wie darüber noch geschwärmt wurde, drücken vielleicht folgende Sätze im Tageblatt aus: „Man liest so häufig von den neuen Schönheitswerten, die sich in Verknüpfung mit den technischen Errungenschaften der neueren Zeit ganz im Stillen herausgebildet haben. Hier hatte man die lebendigste Anschauung einer solchen neuen Schönheit. Welche Feinheit und Zierlichkeit der Gestaltung bei einer so mächtigen Kraftwirkung, welcher Eindruck vollkommener Sicherheit bei einer doch immerhin noch sehr gewagten Tätigkeit, wie es die Kunst des Fliegens ist!“
Kommen wir zurück zu den schon erwähnten Naumburger Flugzeugbauern. Dabei handelte es sich um einen „Ingenieur Kaulfuß aus Hornhausen [vermutlich bei Oschersleben] und einen Tischlermeister Weihe aus Reindorf bei Aschersleben [vermutlich Reinstedt]“, die beabsichtigen, „sich hier zur Gründung einer Flugzeugbaugesellschaft niederzulassen. Sie sind schon dabei ein großes, sturmsicheres Fliegerzelt auf dem Garnisonsübungsplatz aufzustellen, wozu ihnen die Genehmigung erteilt worden ist. Das Zelt ist groß genug, um zwei Flugzeuge aufzunehmen“, wurde weiter aus dem Tageblatt vom 16. Mai bekannt. „Die Unternehmer haben bisher zwei Flugzeuge gebaut, die der Herschaffung wegen ganz oder teilweise zerlegt, einstweilen bei einem hiesigen Spediteur untergebracht sind. Nach deren Zusammenstellung, in etwa 10 bis 14 Tagen, dürften die Flugversuche beginnen können, die nach den bisherigen Erfahrungen sicherlich das regste Interesse der Bevölkerung finden werden.“
Rund 3 Wochen später erfuhr man dann: „Den beiden Erfindern ist es nach fleißiger Arbeit gelungen, das schöne schlanke Flugzeug zu vollenden. Die Schwere der ganzen Flugmaschine beträgt nur 6 Zentner, die Flügelbreite 12 Meter und die Länge vom Propeller (der einen Längendurchschnitt von 2½ Meter hat) bis zum Steuerende ist 9 Meter. Der Motor ist sternförmig und wird durch die Luft gekühlt. Die Gondel, in der sich 2 Sitze befinden, ist 2½ Meter lang und ½ Meter breit; in dem vordersten Sitz ist die Steuerung und unter den Flügeln ist der Zugang in die Gondel durch zwei Türen ermöglicht. Der Benzinbehälter hängt in einem Gestänge gesondert über der Gondel und ähnelt einem Torpedogeschoss. Um in ihren Arbeiten durch das Publikum nicht gehindert zu werden, wollen die Herren von nun an für nähere Besichtigung und Erläuterung des Apparates ein Eintrittsgeld erheben.“
Wiederum 2 Wochen später wurde mitgeteilt, dass die „beiden Flugtechniker ihre Versuche jüngst auf kurze Zeit unterbrechen mussten, um zunächst die vorschriftsmäßige Sicherung zur Verhütung von Unfällen und Beschädigungen einzurichten. Nachdem das alles erledigt war, unternahmen die Herren am Freitag gegen Abend wieder einen Probeflug, der zu voller Zufriedenheit verlief, denn trotz böigem Winde konnten die verschiedenen Flugkurven recht ruhig und sicher ausgeführt werden.“
Alles schien bestens zu laufen, bis es am 23. Juni zu einem Unfall kam. „Das auf dem Garnisonsübungsplatz am Buchholz gebaute Flugzeug ist Sonntag früh verunglückt. Menschenleben sind glücklicherweise nicht zu beklagen, aber monatelange Arbeit ist in wenigen Sekunden vernichtet worden“ hieß es darüber im Tageblatt. Und das kam so: „Der von den Flugtechnikern Kaulfuß und Weihe gebaute Eindecker, der am Freitag und Sonnabend Abend wohlgelungene Probeflüge über dem Exerzierplatz gemacht hatte, sollte am Sonntag morgen einen größeren Übungsflug unternehmen. Auf dem Boden rollend wurde das Flugzeug unter der sicheren Führung des Ingenieurs Kaulfuß zum Südrand des Platzes gelenkt, um von dort in der Richtung der Flugzeughalle aufzusteigen. Nach kurzem Anrollen hob sich der Eindecker dann auch majestätisch in die Höhe (von 15 bis 12 m) und nahm die Richtung links an der Halle vorbei auf den Eingang des Platzes. Auf- und absteigende Bewegungen sowie ausgezeichnet gelungene, sichere Führung erfordernde Kurven wurden geflogen. In 10 m Höhe kreuzte der Flieger die Telegraphenleitung, um dann, mit Auf- und Absteigeübungen, in eleganter Linksschwenkung dem Ausgangspunkte wieder zuzusteuern. Kurz bevor er diesen erreichte, beabsichtigte der Führer aus etwa 10 m Höhe niederzugehen, um mit vollem Motorbetriebe eine kurze Strecke zu rollen und dann wieder hochzusteigen. Hierbei hatte er bei dem jetzt so hohen Graswuchs eine Bodensenkung nicht rechtzeitig bemerken können. Das Flugzeug war schon etwa 20 m weit gerollt, da gab es plötzlich einen Ruck und Krach und es hatte sich auf die linke Seite überschlagen. Durch Einhauen des Propellers in die Grasnarbe war in wenigen Sekunden das gewiss stolze Flugzeug in einen Trümmerhaufen verwandelt. Glücklicherweise unverletzt, kroch der Führer aus dem Wirrwarr von Drähten und Trümmern hervor; mit beneidenswerter Ruhe ging er dem zu Hilfe eilenden Mitarbeiter entgegen und sagte nur: ‚Das ist des Fliegers Los; wenn es nur nicht so viel kosten würde!‘“
Es schien, als wenn das schon das Ende der Unternehmung gewesen sei, doch schon am nächsten Tag verlautete: „Der Fliegerunfall ist nicht von der anfangs befürchteten Bedeutung gewesen und namentlich nicht etwa auf besondere Konstruktionsfehler des Apparates, sondern auf gewisse ungünstige Zufälligkeiten zurückzuführen, über die, wie über den Verlauf des Unfalls und überhaupt über ihre Bestrebungen die Herren Kaulfuß und Weihe, die den Schaden in einigen Tagen ausgeglichen zu haben hoffen, sich nächsten Freitag, den 28., in einer Versammlung in der ‚Post‘ näher aussprechen wollen.“
Die besagte Versammlung wurde von 60 Interessierten besucht. Der Veranstalter war ein Bücherrevisor namens Kirchhof. Zunächst erfuhr man noch etwas über Kaulfuß und Weihe. „Diese Herren haben einen sicher und gut fliegenden, in Probeflügen bewährten Apparat gebaut, einen Apparat, der das Ideal verwirkliche, das Herrn Kaulfuß von Jugend auf vorgeschwebt und ihn veranlasst habe, eine langjährige, ungekündigte, gute Stellung aufzugeben, wie ja auch sein Freund, der Möbelarchitekt Weihe bereit sei, nicht nur durch Geldopfer und Herstellung der Holzteile des Apparates die Sache zu unterstützen, sondern sie auch durch Verkauf seiner gutgehenden Möbelfabrik finanziell zu sichern und weiter zu fördern.“ Dann erklärte Kaulfuß, „es sei ihm gelungen, einen Apparat zu bauen, mit dem er schon bei den ersten Versuchen, ohne dass der Motor seine ganze Kraft entwickelte, ganz ansehnliche und befriedigende Leistungen habe vollbringen können. Ohne schon in einem andern Apparate gesessen zu haben (!), sei er am Freitag 4, am Sonnabend 6, am Sonntag 15—20 Meter hoch geflogen und das zuletzt vorgekommene Missgeschick werde sich, nachdem seine Ursache erkannt und beseitigt sei, nicht wiederholen.“ Anschließend erklärte er anhand eines Modells seines Flugapparates die technischen Details zu Motor, Tragflächen, Steuerung usw. Schließlich kam das Vorhaben zur Sprache, eine GmbH zu gründen, die „den Bau von Aeroplanen größeren und kleineren Typs, Propellern und anderen Flugzeugteilen, Ausbildung von Fliegern, Beteiligung an Preisflügen und Veranstaltung von Schauflügen“ bezweckt. Der Leiter der Versammlung, Herr Kirchhof, würde „für 3 Jahre die kaufmännische Leitung und agitatorische Vertretung des Unternehmens übernehmen“. Er erklärte sich bereit, in seinem Büro, Poststraße 1, über das Unternehmen nähere Auskünfte zu erteilen und etwaige Zeichnungen zur Beteiligung daran entgegenzunehmen.
Diese, nennen wir es mal Werbeveranstaltung, erreichte nicht das angestrebte Ziel. Acht Wochen später konnte man nämlich im Tageblatt lesen: „Der Flugtechniker Kaulfuß, der so unermüdlich an seinem von ihm erfundenen Flugapparat gearbeitet hatte, hat nunmehr die Weiterarbeit eingestellt. Der Unfall, der ihm bei seinem letzten Probefluge widerfuhr, war ihm zum Verhängnis geworden. Er wäre aber doch wieder zum Fluge gekommen, wenn ihn sein Kompagnon mit Geldmitteln noch weiter unterstützt hätte. Es war aber dem strebsamen Mann nicht mehr möglich, aus eigenen Mitteln die Arbeit fortzusetzen. Einige kleine Geldsummen waren wohl von Freunden des Flugsports zusammengebracht worden, doch reichte dies nicht aus, um ihn wieder flügge zu machen. Der Apparat ist zusammengelegt und in die Wohnung des Erfinders gebracht worden.“
Damit endete zunächst der Traum von einer Naumburger Flugzeugwerft. Was auf dem Gebiet später unternommen wurde, kann man in dem hier 2003 erschienenen Artikel von Eberhard Kaufmann „Nur ein paar Latten mit Sitz und Flügeln“ nachlesen.
Die Ansichtskarte aus dem Jahr 1912 zeigt eine Etrich-Taube, wie sie am 11. Mai 1912 hier die Naumburger begeisterte. Die „Taube“ war ein leichtes einmotoriges, zweisitziges Sport,- Aufklärungs- und Schulflugzeug, entwickelt vom österreichischem Flugzeugkonstrukteur Igo Etrich. Davon wurden von 1910 bis 1918 mehr als 300 Stück gebaut, unter anderem vom Deutschen Hersteller Rumpler Flugzeugwerke. Daher die Bezeichnung Etrich-Rumplersche Taube.