Hochwasser in Naumburgs Stadtzentrum
5. Januar 2013
Geht man von Naumburgs Othmarskirche kommend am "August Reinstein Haus" vorbei die wenigen Stufen zur Freyburger Straße hinab, erreicht man rechts das Haus Freyburger Straße 4, auch als "Modellbahneck" bekannt.
Hier befindet sich in ca. 1,40 Meter Höhe eine Tafel mit der Aufschrift "Wasserstand 4. Juni 1875". Hochwasser an Saale und Unstrut, also in Naumburgs Umgebung, sind uns ja nicht unbekannt, aber so nahe am Stadtzentrum? Undenkbar würden wir sagen, hätten wir nicht das Unwetter, das am Abend des 30. Aprils 2000 über Naumburg und Umgebung ausbrach, miterlebt. Wassermassen ergossen sich damals aus dem Buchholzgraben über die Buchholzstraße und den Wenzelsring in die Freyburger Straße und richteten umfangreiche Schäden an. In der Freyburger Straße wurde sogar eine Radfahrerin von den halbmeterhohen Fluten erfasst und gut 100 Meter von der Einmündung Michaelisstraße bis zur Othmarsquelle mitgerissen, wo Passanten die leicht verletzte Frau aus dem Wasser ziehen konnten.
Noch weitaus furchtbarer waren die Unwetter, die Naumburg im Frühjahr 1875 auf ähnliche Art und Weise heimsuchten. Nachdem sich bereits am Mittag des 10. Mai 1875 über dem Südwesten unserer Stadt ein Wolkenbruch entlud, dessen Wassermassen schwere Schäden anrichteten, kam es am späten Abend des 4. Juni 1875 noch schlimmer. Wieder ging ein Wolkenbruch an gleicher Stelle nieder und gewaltige Wassermassen wälzten sich über die Felder hinweg in die Stadt. Neben anderen Verwüstungen wurde ein großes Scheunen- und Stallgebäude des Gasthauses "Zum Goldenen Hahn" niedergerissen und seine unteren Räume unter Wasser gesetzt. Eine massive Hofmauer hielt den Wassermassen nicht stand, wodurch die dahinterliegenden Gärten und Nachbargebäude der Schulstraße bis ca. 6 Fuß hoch mit Wasser und Schlamm überflutet wurden.
Eine ältere Frau und ein junger Mann, welche beide in einem Hinterhause der Schulstraße wohnten, wurden bei dem Versuche, sich in den oberen Stock des Vorderhauses zu retten, von den Fluten erfasst und aus dem Hause mitgerissen. Ihre Leichen konnten erst später am Georgenberge bzw. beim Wasserschlösschen geborgen werden. Ein andrer Mann, der seinen von den Fluten ergriffenen Kleiderschrank fest zu halten versuchte, wurde mit diesem fortgerissen, konnte aber gerettet werden.
Zum Geschehen um das Haus Freyburger Straße 4, ist im "Naumburger Kreisblatt" vom 7. Juni 1875 folgendes nachzulesen. "Mit voller Wucht und furchtbarem Getöse, untermischt mit dem Geschrei, dem Wehklagen und dem Hülferuf der unglücklichen Hausbewohner prallte der ca. 8 Fuß hohe Wogenschwall namentlich an das quer vor an der Mausastraße stehende Wohngebäude des Fischers und Holzhändlers Völkner, setzte die Parterreräume desselben vollständig unter Wasser, riß die Umfassungsmauer des zu diesem Hause gehörenden Gehöftes, sowie die westliche Ecke des Hauses selbst nieder, überschwemmte das Gehöft und die darin befindlichen, mit verschiedenen Fischen besetzten Teichbehälter, führte die dort aufgestapelten ansehnlichen Quantitäten Nutzholz an Bohlen, Brettern usw. bis in das angrenzende Gehöft des Herrn Möbelfabrikant Schneider, wo dasselbe aufgestaut wurde, fort."
Außer den Menschenleben waren erhebliche materielle Schäden zu beklagen. Von den vielen Häusern, die unter Wasser gesetzt und mehr oder weniger stark beschädigt wurden, waren 15 einsturzgefährdet. Viele Familien hatten fast ihre gesamte Habe an Mobiliar, Wäsche und Kleidungsstücken verloren. Um den Geschädigten Hilfe zu leisten, wurden Sammlungen durchgeführt, die eine Summe von 44.364 Mark erbrachten.